Als Corona kam, schossen die Zahlen in die Höhe. Mit Ausbruch der Pandemie installierten Tausende Arztpraxen Software für datensichere Videosprechstunden. Allein in Bayern genehmigte die Kassenärztliche Vereinigung 6.000 Videopraxen, ein Jahr zuvor waren es weniger als 100. Das entspricht einem Anstieg von 6.000 Prozent. Seitdem feiern wir den Durchbruch der Telemedizin, mit e-Rezepten und Krankschreiben per Videovisite. Aber Hand aufs Herz – ist das schon alles, was wir in Sachen Telemedizin zustande bringen?
Genau genommen sind Looper Straftäter. Sie lassen Technik und Telemedizin Entscheidungen treffen, die laut deutscher Gesetzgebung nur von Menschen getroffen werden dürfen. Looper, Diabetiker, meist vom Typ1, müssen sich ein Leben lang Insulin zuführen, weil die Bauchspeicheldrüse nicht mehr arbeitet. Viele müssen von Kindesbeinen an: messen, spritzen, messen, spritzen – jeden Tag, viele Male.
Um die Prozedur zu erleichtern, nutzen sie in die Haut transplantierte Chips, über die sie den Blutzuckerwert kontinuierlich messen können, ohne sich immer wieder piksen zu müssen. Zudem tragen sie Insulinpumpen bei sich, kleine Gefäße mit Motor, die direkt mit der Blutbahn verbunden sind. Nach dem Messen nur noch die Insulindosis einstellen, den Rest erledigt die Pumpe.
Zu Loopern werden sie erst, wenn sie den Kreis technisch schließen. Sie verbinden die über einen Sensor gesteuerte Blutzuckermessung mit der Insulinpumpe – sie „closen“ den „loop“ und setzen einen Automatismus in Gang. Meldet der Sensor einen Abfall des Spiegels, regiert die Pumpe und injiziert die exakt benötigte Dosis. Der Mensch muss nicht mehr eingreifen.
Von der Erfahrungsberichten einiger Looper weiß man, dass sich der HbA1c – der Langzeitblutzucker – auf einem erfreulichen niedrigem Niveau eingependelt hat, seitdem der Kreislauf geschlossen wurde. Der Diabetesarzt könnte sich jetzt noch telemedizinisch dazu schalten, die Daten überwachen, beraten, Alerts bekommen und automatisch Hilfe schicken, wenn etwas nicht stimmt. Technisch könnten wir schon heute eine Telemedizin installieren, die auf dem Weg ist, ein neuer Behandlungsstandard zu werden.
Aber – es geht um Menschenleben. Zuerst müssen juristische, ethische Fragen beantwortet werden, bevor sich Verantwortlichkeiten verschieben. Looper handeln gegen das Gesetz, weil die Frage der Haftung nicht geklärt ist. Wer haftet, wenn im Loop Fehler passieren? Wenn zu viel oder zu wenig Insulin in den Körper gelangt – und der Patient Schaden nimmt oder gar stirbt. Die Frage, was möglich ist, hat viele Dimensionen. Und das muss geklärt werden.
Fakt ist, eine Telemedizin, die mit Gadgets und Wearables gekoppelt ist, die Patienten bei sich tragen, könnte einen zweiten Tele-Schub auslösen. Der Point-of-Care, der Punkt also, an dem Diagnose und Therapie stattfinden, könnte sich zum Patienten hin verschieben – bzw. dahin, wo der Patient gerade ist.
„Ein digitales EKG am Handgelenk ist theoretisch gar kein Problem – im Grunde bietet schon eine Apple-Watch viele echte Einsatzmöglichkeiten“, sagt Manuel Puntschuh, Direktor der Medgate Mini Clinics in der Schweiz. Ein solches EKG-Wearable könnte Daten live an den Arzt senden – bei schweren Krankheiten ein entscheidender Vorteil. „Derzeit werden diese Geräte aber noch viel zu wenig einbezogen“, so der Arzt weiter.
Die „Mini Clinics“, die Puntschuh verantwortet, sind digitale Arztpraxen, in denen jedoch kein Arzt physisch anwesend ist. Vor Ort betreut werden die Patienten von spezialisierten Medizinischen Fachangestellten. Hausarzt und Fachärzte kommen telemedizinisch hinzu. Über Diagnoseinstrumente, die erhobene Daten digital übertragen können, erhalten die Teleärzte Informationen. So können sie aus der Ferne besser diagnostizieren und die richtige Behandlung verschreiben.
Der Erfurter Neurologe Dr. Oliver Tiedke ist ein Facharzt, der sich via Telemedizin in die Hausarztpraxis schaltet. Er testet ein deutsches Pendant zu den Mini Clinics, die so genannte Ohne-Facharzt-Praxis. In dieser Versuchsanordnung wird das Zuschalten fachärztlicher Disziplinen in die Hausarztpraxis getestet. Die Praxen sind ausgerüstet mit digitalen Stethoskopen und Kameras, mit denen man beispielsweise digital in den Gehörgang schauen kann. Aber auch Ultraschall-Visiten lassen sich problemlos übertragen.
Tiedke ist schon nach den ersten Testsitzungen von dem Konzept überzeugt. „Kürzlich hatte ich einen 80-jährigen Patienten mit starken Rückenschmerzen in meiner Telesprechstunde. Er hätte zuerst zum Orthopäden gehen können, aber die Hausärztin hatte einen Anfangsverdacht. Dass es allerdings die Krankheit Parkinson ist, die ich sofort diagnostizieren konnte, und die die Rückenschmerzen seit zwei Jahren auslöste, hatte keiner auf dem Zettel. Ich bin optimistisch, dass wir ihn jetzt medikamentös einstellen können.“ Parkinson lasse sich gut von Ferne behandeln.
Tiedge wirbt für solche assistierten Telepraxen, da ein Großteil der Patienten heute und auch in den kommenden Jahren noch nicht genügend digital sein und durch das Raster fallen würden. „Keiner meiner Patienten, die ich per Telemedizin untersucht habe, hat jemals ein Zoom-Meeting erlebt, geschweige denn eine Videosprechstunde. Sie sitzen zum ersten Mal beim Arzt am Bildschirm. Für uns ist das völlig normal, für die weitaus größere Gruppe der Patienten aber eine unglaubliche Hürde“
Ältere Menschen müssten abgeholt werden, so Tiedge. Es brauche Menschen, die zwischengeschaltet sind und die Technik moderierten. „Gerade die Klientel, die ich betreue, die über 65-Jährigen, müssen wir anders abholen, da braucht es Hilfestellung.“
Im Rahmen einer Studie an der Berliner Charité wurde Patienten ein Sensor in die Lungenarterie implantiert, ein intelligentes Kissen diente als Mess-Station und leitete die Werte live an eine Datenbank weiter. Die Patienten litten allesamt an schwerer Herzinsuffizienz. Mit dem Live-Tele-Monitoring konnte das Betreuerteam die Therapie in Echtzeit überwachen. Dieses telemedizinische Versorgungskonzept, das der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Methodenrichtlinien das „Telemonitoring bei Herzinsuffizienz“ erlaubt hat, kann so möglicherweise zum Lebensretter werden.
Ohne Terminvergabe und ohne Zeitverzögerung lässt sich ein Druckanstieg in der Pulmonalarterie erkennen, die Innovation kann so einen Krankenhausaufenthalt oder Schlimmeres verhindern. Während der Studiendauer habe man die Anzahl der ungeplanten Klinikaufenthalte in der Telemedizingruppe um 30 Prozent senken können. Auch die Sterblichkeit ging zurück.
David Meinertz, Chef der Online-Praxis Zava, sagte gegenüber der WirtschaftsWoche: „Covid-19 habe die Telemedizin um fünf Jahre nach vorne gebracht.“ In noch einmal fünf Jahren, so Meinertz‘ Prognose, werden die Hälfte aller Interaktionen zwischen Arzt und Patient bereits online stattfinden.
Manuel Puntschuh von den MiniClinics pflichtet dem bei. Er ist überzeugt davon, dass Telemedizin, die mit den Daten von Wearables arbeitet, einen ganz neuen Standard setzen wird. „Kann ich es per Telemedizin machen oder muss ich noch zum Arzt, so werden wir in wenigen Jahren denken“, sagt der Experte von Europas größtem telemedizinischen Zentrum mit Sitz in der Schweiz.
Die Dynamik ist erstaunlich. Erst vor zweieinhalb Jahren wurde das so genannte Fernbehandlungsverbot gelockert. Bis dahin war Telemedizin in Deutschland bis auf wenige Versuchsprojekte schlichtweg verboten. Was seitdem passiert ist, mit Anbietern wie TeleClinic, Kry, Zava oder Medgate, zeigt, was möglich ist. Im Eiltempo wird laut Manuel Puntschuh gerade das aufgeholt, was in der Medizin vollkommen naheliegend sei.
Ein Thema spricht Puntschuh im Gespräch noch an, es ist ihm wichtig: Ärztemangel. Insbesondere auf dem Land schließen immer mehr Praxen, werden die Wege zum nächsten Arzt immer weiter.
Puntschuh ist überzeugt, dass es in Wahrheit gar keinen absoluten Ärztemangel gebe. Das Problem sei nur: „Die Patienten werden nur noch nicht effizient genug zum richtigen Behandler vermittelt.“ Den Beweis will er mit den Mini Clinics antreten.
„Warum soll ich bei einer Hautveränderung warten müssen, bis der nächste Dermatologe einen Termin frei hat? Vielleicht hat der Kollege am anderen Ende der Republik gerade Zeit. Dann kann ich doch den via Bildschirm auf mein Muttermal gucken lassen“, sagt Puntschuh. Gerade für Menschen, die auf dem Land wohnen, berge die Telemedizin deshalb eine enorme Verbesserung.
Text: Ron Voigt
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