Nanotechnologie könnte die Medizin und Pharmazie der Zukunft revolutionieren. Schon heute transportieren winzige Taxis Wirkstoffe an speziell ausgewählte Ziele im Körper, statt den gesamten Körper zu überschwemmen. Nanobots könnten künftig auch Zellproben entnehmen und helfen, bislang unheilbare Krankheiten zu besiegen.
Das Gießkannenprinzip gilt gemeinhin als wenig effektive Methode der Ressourcenverteilung. Aber genau auf diese Weise wirken auch heute noch die meisten Medikamente. Wer Kopfschmerzen hat, wirft sich Schmerzmittel ein, die die Herstellung eines Enzyms blockieren, das zur Schmerzweiterleitung nötig ist. Das Rückenmark kriegt nicht mit, dass der Kopf dröhnt, Patient fühlt sich besser, Medikament wirkt. Mit dem kleinen Haken, dass alle Enzyme dieser Gruppe blockiert werden – überall im Körper.
Und da die Enzyme, in diesem Fall Prostaglandine, auch noch andere Funktionen im Körper übernehmen – zum Beispiel die Regulierung der Magensäure – kommt es zu den unangenehmen Begleiterscheinungen, die den meisten Medikamenten immanent sind: den Nebenwirkungen. Wer Pech hat, hat nach der Einnahme eines Schmerzmittels deshalb zwar keine Kopfschmerzen mehr, dafür zwickt aber der Magen.
Zu einem der großen Forschungsfelder auf dem Gebiet der Pharmazie und Medizin gehört deshalb die Frage: Wie bringen wir einen Wirkstoff passgenau an die eine Stelle im Körper, an der er gebraucht wird? Und verschonen damit den Rest des Gewebes vor nutzlosen bis unerwünschten Reaktionen?
Die Lösung liegt in der Nanotechnologie und spielt sich damit, wie der altgriechische Name „nanos“ vermuten lässt, in einer wahren Zwergenwelt ab. 100 Nanometer, das ist für Forscherinnen wie zum Beispiel Cornelia Keck, Professorin für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie an der Universität Marburg, eine durchaus handelsübliche Größenordnung.
Vorstellbar ist diese Welt der Winzigkeit nur schwer. Passt doch ein Nanometer eine Milliarde Mal in einen Meter. Hundert Nanometer zehn Millionen Mal in einen Meter. Das Prinzip, an dem Keck und ihre Kolleginnen und Kollegen forschen, ist allerdings wiederum einfach: „Wir basteln winzige Taxis, die Wirkstoffe superspezifisch dahin bringen, wo sie der Körper gerade braucht.“
Manchmal ist es dafür nötig, den Wirkstoff zu tarnen, da der Körper fremde Substanzen sofort loswerden will und wieder abbaut, bevor sie am Zielort ankommen. „Wir nennen das PEGylierung, dabei werden zugeführte Wirkstoffe mit Polyethylenglycol konjugiert und können derart maskiert von den Abwehrmechanismen des Körpers unbehelligt bis zu dem Ort reisen, an dem wir sie brauchen“, sagt Keck. Polyethylenglykol ist wasserlöslich – und völlig ungiftig. Als Taxi für Arznei eignet es sich damit perfekt.
Auch in der Krebsmedizin lässt sich das Prinzip erfolgreich einsetzen. Da es Tumorgewebe zu eigen ist, schnell zu wachsen, ist seine Beschaffenheit oft weniger dicht. Das macht sich die Nanotechnologie zu Nutze, wenn sie beispielsweise Eisenpartikel in den Körper schleust, die in gesundes Gewebe nicht so leicht eindringen, sich aber in den Löchern des Tumorgewebes festsetzen können. „Bestrahlen wir den Tumor dann, werden die Eisenpartikel extrem heiß – die bösartigen Zellen verbrennen von innen“, sagt Keck.
Wo die chemischen Taxis an ihre Grenzen stoßen, forschen Wissenschaftler schon an mikroskopisch kleinen Nanorobotern, die in den Körper injiziert, Wirkstoffe beispielsweise direkt in das Innere eines Tumors transportieren. Ein bisschen handelt es sich dabei noch um Zukunftsmusik. Aber beispielsweise arbeitet man im kalifornischen Culver City schon an Mikrorobotern, die im Körper zum Einsatz kommen.
Michael Shpigelmacher, Mitgründer des Start-ups Bionaut, beschreibt den gleichnamigen, von seinem Unternehmen entwickelten Mikroroboter in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ so: „Eigentlich wie eine winzige Schraube, die wie von einem unsichtbaren Schraubenzieher bewegt durch die Venen an den Ort kommt, wo der Tumor sitzt.“ Was Shpigelmacher als „unsichtbaren Schraubenzieher“ bezeichnet, ist nichts anderes als ein Magnet, der den winzigen Roboter von außen steuert und die Wirbelsäule entlang zum Gehirn zieht.
Shpigelmacher und seine Kolleginnen und Kollegen erhoffen sich, dass Nanoroboter in Zukunft die Medizin revolutionieren und heute als unheilbar geltende Krankheiten heilen könnten: „Alzheimer, Huntington, Parkinson, all diese Krankheiten, die heute als unbezwingbar gelten – da könnten Mikroroboter der Brückenkopf sein, um direkt zum Gehirn Zugang zu bekommen und dort entweder Medikamente zu platzieren, Zellproben zu entnehmen oder bestimmte Gehirnregionen zu stimulieren.“
Eine Hürde auf dem Weg zur Revolution: Da Nanobots so unvorstellbar klein sind, bieten sie natürlich keinen Platz für lenkende Software in ihrem Inneren. Sie beweglich und steuerbar zu machen, ist daher eine der großen Herausforderungen. Denn im Körper lauern Reibungswiderstände, der Nanoroboter kann nicht mühelos wie durch Wasser strömen. Er findet eher eine zähe Umgebung ähnlich der in einem Honigtopf vor.
Um kleine Roboter dennoch präzise durch den Körper bewegen zu können, forscht man beispielsweise am Max-Planck-Institut daran, sie so zu programmieren, dass sie in Schwärmen agieren. Die Modelle, die 500-mal kleiner sind als ein Haar, werden aus einem Polymer in 3D gedruckt und mit einer dünnen Kobaltschicht überzogen, die sie magnetisch macht. So können sie in einem rotierenden Magnetfeld die Richtung wechseln und sogar tanzen.
Aber nicht nur die Magnete können die Bewegung der Miniroboter beeinflussen. Die Forscher entdeckten auch, dass Teilchen, die nebeneinander auf einer Flüssigkeit schwimmen, dazu neigen, aufeinander zuzuschwimmen. Die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme (MPI-IS), der Cornell University und der Shanghai Jiao Tong University nennen das den Cheerio-Effekt: Wenn man zwei Cerealien auf Milch treiben lässt, stoßen sie irgendwann zusammen. Umgekehrt kann dieser Effekt auch dazu führen, dass sich zwei Dinge gegenseitig abstoßen.
Um als Nanobots im Körper agieren zu können, müssen die Roboter nach Aussagen von Gaurav Gardi, Doktorand in der Abteilung für Physische Intelligenz am MPI-IS, noch kleiner werden: „Unsere Vision ist es, ein System zu entwickeln, das noch winziger ist. Wir wollen die Partikel bald nur einen Mikrometer klein bauen. Diese Kollektive könnten möglicherweise eines Tages in den menschlichen Körper eindringen und durch komplexe Umgebungen navigieren, um zum Beispiel Medikamente zu verabreichen, Blockaden zu lösen oder schwer zugängliche Bereiche zu stimulieren“, erklärt Gardi.
Während die einen an der Realisierung von Szenarien arbeiten, die bislang eher an die Handlung eines Science-Fiction-Films erinnern, macht Cornelia Keck von der Universität Marburg schließlich auch noch auf einen ebenso banalen wie bahnbrechenden Nutzen von Nanotechnologie in der Pharmazie und Medizin aufmerksam.
Bei ihren Forschungen zu Kosmetikprodukten, die die Haut vor schädigendem Sonnenlicht schützen und damit auch vor Krebs bewahren, stießen Keck und ihre Kollegen auf einen Naturstoff, der im Stiefmütterchen vorkommt. Da der Stoff schwer löslich ist, konnte man ihn nur schwer zu seinem Ziel, also in die Haut transportieren und musste ihn umständlich chemisch nachbauen – was sich als sehr ressourcenintensiv herausstellte. „Mittels Nanotechnologie ist es uns gelungen, den Naturstoff in Wasser zu lösen. Nun erreichen wir mit einer 500-fach geringeren Dosis einen doppelt so guten Effekt”, sagt Keck.
Aus Effektivitätsgesichtspunkten ist das eine Revolution. Denn: Weniger Wirkstoff bedeute auch weniger Abwasser, weniger Belastung in den Klärgruben, weniger Einfluss auf in Flüssen lebende Fische und damit auch auf den Menschen. Die Nanotechnologie ist damit nicht nur eine Möglichkeit, in Zukunft schwere Krankheiten zu heilen. Sie bietet auch den Schlüssel zu einer ressourcenschonenden, nachhaltigen und umweltfreundlichen Pharmazie. Das Prinzip Gießkanne wird irgendwann ausgedient haben.
Text: Ronald Voigt
www.nature.com/articles/s41467-022-29882-5
sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/nanoroboter-mikroroboter-medizin-bionaut-90361
www.tagesspiegel.de/wissen/medizinischer-fortschritt-roboter-im-blut/12751850.html
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