Digital Health

Point-of-car: Wie das Auto zum digitalen Assistenzarzt wird

Point-of-care nennen Mediziner den Ort, an dem Diagnostik stattfindet. Klassischerweise das Krankenhaus oder die Arztpraxis. Immer öfter aber wandert der Ort der Diagnostik an das Handgelenk des Patienten. Digitale Wearables machen Telemedizin im heimischen Wohnzimmer möglich. Oder im Auto! Schließlich verbringt jeder Deutsche durchschnittlich bis zu 60 Minuten täglich im Auto. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Industrie den Point-of-car für sich entdeckt hat. 

Das war knapp! Wenn es im Straßenverkehr fast zu einem Unfall kommt, schießen Adrenalin und Cortisol in den Körper ein, das Blut zieht sich zurück, um die lebenswichtigen Organe zu versorgen, der Fahrer ist hellwach. Jetzt erst einmal Durchatmen, um wieder auf Normal-Puls zu kommen. Beim „Mindfulness Concept Car“ von Ford hilft beim Durchatmen jetzt die Klimaanlage mit.

Nach dem Beinahe-Crash kommen kühle Luftstöße aus den Lüftungsschlitzen, simulieren und stimulieren so ein tiefes Ein- und Ausatmen. Weil die Sensorik des Bremssystem gemeldet hat, dass es gerade sehr heikel wurde, weiß die Klimaanalage in Sekundenbruchteilen, was zu tun ist. Der Kölner Automobilbauer stellte die Innovation auf der IAA 2021 der Öffentlichkeit vor.

Motorleistung ist längst nicht mehr alles

Nicht mehr allein Motorleistung und Beschleunigung machen Autos heutzutage aus, sondern Entertainment-Systeme und Wellness-Funktionen. Ein Trend, den immer mehr Autohersteller erkannt haben. Wer sich unwohl fühlt, lässt sich schneller vom Verkehr ablenken. Dagegen steigert Wohlbefinden die Konzentration, lässt das Gehirn schneller reagieren und erhöht damit die Sicherheit beim Fahren.

Moderne Autositze bieten Massagen, pneumatische Stützen stärken den Rücken. Ein Tastendruck genügt und die Entspannung beginnt. Drücken, kneten, dazu viel Wärme. Walzen rollen quer über den Rücken. Schon nach wenigen Minuten lockern sich die Muskeln. Zusätzlich ertönen sphärische Klänge und Düfte – wahlweise nach Farnen oder Wald – strömen aus der Lüftung.

Das Auto wird immer mehr zur Wohlfühloase. Entspannter und ausgeglichener ans Ziel kommen, darum geht es. Bisher bleibt die automobile Software allerdings meist passiv, empfiehlt lediglich, statt aktiv einzugreifen.

Das aktiv „achtsame“ Automobil

Ford geht mit seiner jüngsten Konzeptstudie einen Schritt weiter, um die Fahrerin oder den Fahrer zurück in den Relaxmodus zu hieven. Geht der Puls am Steuer nach oben oder nach unten, reagiert die Innenraumbeleuchtung automatisch und sendet beruhigendes Licht oder solches, dass Puls und Fahrer mehr in Wallungen versetzt.

Auch die Sitzmotoren können reagieren, um die beste Position zur individuellen Anspannungslage zu finden. Selbst die Audio-Playlist antwortet auf beispielsweise nervigen Stopp-and-Go-Verkehr und stimmt besonders beruhigende Takte an.

Für akustische „Hirnstimulationen“ sorgen Lausprecher in den Kopfstützen und im Dach während eines kurzen Nickerchens. Dann fährt der Sitz in die Liegeposition, die Nackenstütze hoch und der erholsame Kurzschlaf kann starten. Selbst Yoga-Übungen im Autositz – zum Beispiel während des Batterieaufladens an der Stromtankstelle – sind Teil des Akustikprogramms.

Was wie eine Spielwiese der Ingenieure anmutet, könnte Bestandteil einer zukünftigen Grundausstattung von Automobilen werden. Stress abbauen, Achtsamkeit fördern, das Auto in einer Welt positionieren, die immer mehr Burnouts und psychische Krankheiten produziert, das klingt nur folgerichtig.

Der Fahrersitz, der auf den wegdösenden Fahrer reagiert

Viele Autofahrer tauchen in ihre persönliche Komfortzone ein, wenn sie die Türe schließen und am Steuer sitzen. Warum sollte das nicht mit Licht, Sound, Klima und einem Autositz – der immer mehr einem Hightech-Instrument gleicht – unterstützt werden?

Zukünftig könnten Vitalparameter bei all dem eine noch größere Rolle spielen. Mehrere Sensoren in der Sitzlehne erkennen bei diversen automobilen Prototypen zum Beispiel die elektrischen Impulse der Herzaktivität und können diese wie ein Langzeit-EGK aufzeichnen.

So tüftelt der Sitzzulieferer Recaro an Sensorik, die den Autositz in die Lage versetzt, selbstständig zu reagieren. Je nach Datenlage aktiviert sich die Massage, Lüftung oder Pneumatik des Polsters. Mittels Rüttelfunktion möchte Recaro zudem den in einen Sekundenschlaf gefallenen Fahrer wecken oder einfach nur wachhalten.

Aber das ist längt noch nicht alles. Qua Messung der Pupillenveränderung lassen sich kognitive Belastungen feststellen. Sensoren im Lenkrad und eine integrierte Kamera können heute schon den biometrischen Zustand des Fahrers überwachen. Warum sollen nicht auch künftig kleine Blutbilder direkt bei der Fahrt durchgeführt werden können? Oder der Arzt schaltet sich zu, um zu diagnostizieren und zu behandeln.

Bei einem Herzinfarkt übernimmt das Auto „autonom“

Ingenieure und Forscher der Universität Oldenburg und der Ingenieurgesellschaft Auto und Verkehr (IAV) haben sich die Frage gestellt, was das Auto autonom tun kann, wenn Fahrerin oder Fahrer in einer akuten, medizinischen Notlage sind. Auch hier stehen die Vitaldaten der Fahrenden im Mittelpunkt, kombiniert mit registrierten Abweichungen von ihrem individuellem Fahrverhalten.

Weichen einzelne Werte zu stark ab, greift das Fahrzeug ein. Das Auto wird zum Stillstand gebracht und der Notruf automatisch ausgelöst. Das Konzept geht über die bereits existierenden Assistenzsysteme hinaus. „Müdigkeits- oder Emergency-Assist-Programme wissen praktisch nichts über den Gesundheitszustand des Fahrers und greifen in Notfällen nicht oder zu spät ein“, sagt IAV-Ingenieur Mark Busse.

Seine Technologie reagiert auf Kurzatmigkeit oder einen Harzinfarkt und leitet dann die entsprechenden Maßnahmen ein. „The Car That Cares“ haben die Ingenieure das Rettungssystem genannt und bereits in einem ersten Serien-Fahrzeug testweise verbaut.

„e-Call“-Notruf ist nicht nur da – sondern längst Pflicht

Es erweitert das Nutzenspektrum des seit 2018 verpflichtenden Auto-Notrufs. Bei schweren Unfällen funkt der „e-Call“ automatisch die Feuerwehr an und versorgt die Leitstelle noch vor dem Ausrücken mit wichtigen Daten: Standort, Unfallzeitpunkt, Fahrtrichtung, und Fahrzeug-Identifikationsnummer. Aber der verpflichtende Notruf, der gemäß Verbraucherzentralen unter Deutschlands Autofahrern noch überwiegend unbekannt ist, reagiert eben nur auf externe Ereignisse wie einen Autounfall.

Auf einen Herzinfarkt reagieren kann „eCall“ nicht. Autofahrer werden jedoch immer älter, das Durchschnittsalter steigt und so auch die Gefahr krankheitsbedingter Vorfälle während der Autofahrt. Zudem sind viele alleine unterwegs. Deshalb erhoffen sich die IAV-Ingenieure und die Uni Oldenburg eine große Resonanz auf ihre im Herbst 2021 vorgestellte Konzeptstudie.

Assistenzsysteme gegen Reisekrankheit

Brauchen wir aber all diese innovativen, medizinischen Assistenzsysteme aber noch, wenn autonomes Fahren Usus sein wird, wenn Autos nicht einmal mehr ein Lenkrad haben? Ja! Denn auch in einem autonom fahrenden Auto möchten Insassen entspannen und zur Ruhe kommen. Auch hier können sie einen Herzinfarkt erleiden, während sie alleine unterwegs sind.

Passagiere des autonomen Fahrens werden in Zukunft zudem mit einem anderen Problem zu kämpfen haben: der Reisekrankheit. Die tritt auf, wenn die Informationen, die vom Gleichgewichtsorgan kommen, nicht mit den visuellen Informationen des Auges übereinstimmen. Kann der Körper das nicht einordnen, reagiert er mit Übelkeit, Brechreiz, kaltem Schweiß und schnellem Puls.

Mit neuen Assistenzsystemen will der Zulieferer ZF das verhindern. Lenkung, Bremse, Motor, Federn und Dämpfer werden während der Fahrt auf das Wohlbefinden des Passagiers abgestimmt. Die Technik ist laut Angaben des Herstellers schon so präzise, dass sie auf Probleme einzelner Insassen im Cockpit unterschiedlich reagieren kann.

Künstliche Intelligenz soll zudem Fahrmanöver analysieren, um die darauffolgenden Manöver anzupassen oder eine andere Route zu wählen, bei der die Reisekrankheit gar nicht erst auftritt. Statt über eine kurvige Bergstraße schlägt das System eine Route über eine Autobahn ein.

Der Urlaub kann somit auch kommen, wenn wir autonom unterwegs sind!

Text: Von Ron Voigt

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