Digital Health

Wie VR Diagnostik und Therapie in der Kindermedizin erleichtert

„Muss ich heute eine Spritze bekommen?“ – das ist wohl die häufigste Frage, die in der Kindermedizin von den kleinen Patienten gestellt wird. Und die Furcht vor Nadeln ist ernst zu nehmen. Behandlungen verzögern sich und die in der Kindheit geprägten Ängste können sich später bei den Erwachsenen lebenslang bemerkbar machen. Virtual Reality eröffnet hier der Pädiatrie vollkommen neue Möglichkeiten, was die Stressbewältigung angeht, und erschließt immer neue Einsatzfelder.

Virtual Reality in der Kindermedizin

US-amerikanischen Studien zufolge haben fast zwei Drittel der Kinder und ein Viertel der Erwachsenen Angst vor Nadeln. Auch durch schlecht gehandhabte Blutabnahmen, Impfungen, Spritzen und Eingriffe in der Kindheit vermeiden viele Menschen später medizinisch wichtige Behandlungen. Dies kostet die USA jedes Jahr schätzungsweise 1,5 Milliarden Dollar. Naheliegend, dass hier ein Ausweg aus diesem Dilemma gesucht wird. 

Maximale immersive Ablenkung

Bei der Problemlösung könnte ausgerechnet Virtual Reality eine große Rolle spielen. In Abgrenzung zur AR, deren große Stärke in der Unterstützung des medizinischen Personals liegt, ist das Potenzial von VR auf Patientenseite enorm. Beim Eintauchen in die virtuelle Welt besteht kein Kontakt zur Umwelt mehr – und das macht VR zum idealen Tool für die Pädiatrie.

Smileyscope heißt die von Dr. Evelyn Chan entwickelte VR-Brille mit eigener VR-Software. Eigenen Angaben zufolge reduziert Smileyscope sechzig Prozent der Schmerzen und vierzig Prozent der Ängste von Kindern, die Spritzen erhalten oder einen Zugang gelegt bekommen müssen. Wie geht so etwas?

VR-Software kann darauf ausgerichtet werden, wie das Gehirn von Kindern Schmerzen erkennt. Negative, beängstigende, reale Reize ersetzt Smileyscope durch positive, freundliche, virtuelle Reize. Diese Technik, Fachterminus „Procedural Choreography“, substituiert reale Erfahrungen durch einer virtuelle Geschichte. Maximale, immersive Ablenkung also.

Ein Fisch, der virtuell am Arm knabbert, wenn die Spritze kommt

Im Krankenhausalltag sieht das dann so aus: Smileyscope wird von den Kindern aufgesetzt und Puggles, ein animierter Pinguin, gibt erstmal wichtige Tipps für die folgende Behandlung. Dann geht es los, und Puggles sagt: „Du erlebst jetzt ein aufregendes Unterwasserabenteuer. Drei. Zwei. Eins…“  Die Kinder springen ins Wasser. Wellen plätschern über ihre Arme – in der parallel stattfindenden realen Welt ein Tupfer mit Antiseptikum. Fische schwimmen heran. Die Kinder können die Fische auswählen, die ihnen am besten gefallen. Ein Fisch knabbert am Arm, wenn die Nadel eingesetzt wird.

Das Gehirn der Kinder gestaltet etwas völlig Neues, um über das Gefühl der eigentlich angsteinflößenden Nadel ganz anders nachzudenken. „Im Wesentlichen nimmt VR mehr vom Gehirn und der Verarbeitung des Gehirns ein, so dass man tatsächlich weniger in der Lage ist, den Schmerz und die Angst zu verarbeiten", erklärt Chan. In Australien als Start-up gegründet, ist Smileyscope dort in jeder Kinderklinik im Einsatz, und Chan arbeitet mittlerweile mit über vierzig US-amerikanischen Krankenhäusern zusammen.


„Serious Games“ besiegen die Angst

Keine medizinische Disziplin inspiriert die Phantasie rund um VR-Anwendungen aktuell so wie die Kindermedizin und die Kinderchirurgie. Das liegt zum einen daran, dass die jungen Patientinnen und Patienten mit digitalen Medien und Gaming aufwachsen, zum anderen hat sich die Pädiatrie Herausforderungen zu stellen, für die die VR-Technologie wirkungsvolle Unterstützung bereitstellt.

„Die Magnetresonanztomographie ist eine klassische Untersuchung, die Kindern im Vorfeld und währenddessen durchaus Angst machen kann“, sagt Peter Blaurock im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München. Die Untersuchung in einer Röhre ist laut, das Gerät ist groß und kompliziert. Das Kind muss aber absolut stillhalten, um die Aufnahmen nicht vergeblich gemacht zu haben. Mit der VR-Brille kann das Kind durch eine digital generierte Radiologiestation laufen, die Simulation endet damit, dass man selbst in die Röhre gefahren wird und spielerisch das Stillliegen übt.

Das heißt: Das Kind hört die klopfenden, charakteristischen Geräusche des MRTs um sich herum, sieht über sich aber einen friedlichen Nachthimmel, an dem Sterne nach und nach zu Bildern verbunden werden. Sobald das Kind aber den Kopf bewegt, wird dieser Vorgang von der App gestoppt. „Wenn ich also stillliege, schaffe ich es, dass alle Sterne mit Linien verbunden werden,“ meint Peter Blaurock. Perfektes Spiel-Training durch „Serious Games“ – mit dem Nutzen für die Untersuchung danach, die dann auch meist auf Anhieb klappt.

VR hilft auch chronisch kranken Kinder

Wie das Beispiel Smileyscope deutlich macht, können VR-Brillen auch während einer für Kinder unangenehmen, längeren Behandlung nützlich sein, zum Beispiel, wenn eine Wunde genäht wird. Sie dürfen während der Prozedur ein VR-Game spielen. „Durch das Erleben der virtuellen Realität wird das Kind voll aus der Situation herausgenommen – die Technologie bietet also viel Potenzial, durch Ablenkung zu helfen“, erklärt Blaurock. Dafür geeignet sind VR-Spiele, die das Kind allein mit Kopfbewegungen steuert, damit die behandelte Körperstelle absolut ruhig bleibt.

Die VR-Brille hilft darüber hinaus Kindern mit chronischen Krankheiten und Schmerzen und wird so im belgischen Zeepreventorium De Haan, einem renommierten Rehabilitationszentrum für chronisch kranke Kinder, eingesetzt. Unmittelbar vor der nächsten Behandlung gehen die Kinder in der Virtual Reality auf eine entspannende Reise, bei die sie Schmerzen und Ängste vergessen können, die manchmal vor jeder neuen, notwendigen Behandlung steigen.

Dabei wählen die Kinder aus verschiedenen Settings, zum Beispiel Weltraum oder Meer, die dann die Umgebung in der virtuellen Welt darstellen. Eine Stimme begleitet die Reise, sodass sich die kleinen Patienten beruhigen. Die VR-Brille kommt aber nicht nur vor schmerzhaften Untersuchungen zum Einsatz, sondern immer öfter auch bei chronischen Krankheiten in der Schmerztherapie. Mit Hilfe der VR-Brille lernen Kinder unter anderem Entspannungsübungen, die helfen, Angstzustände und Schmerzen langfristig zu mildern.

VR – bald in der Praxis Ihres Vertrauens?

Die Möglichkeiten der der VR sind bei aller Fortschrittlichkeit noch am Anfang, aber jenseits der Pädiatrie gibt es bereits erste Beispiele erfolgreicher Anwendungen. Nicht nur bei autistischen Kindern, sondern auch bei Erwachsenen mit Autismus können VR-Anwendungen bei der Bewältigung der Reizüberflutung während einer MRT-Untersuchung helfen. Angststörungen mit extremen Symptomen behandelt das Evangelische Krankenhaus in Bergisch Gladbach aktuell mit einem neuen Verfahren.

Betroffene werden mit VR-Brillen therapeutisch begleitet. So lernen Patientinnen und Patienten, mit angstauslösenden Situationen wie zum Beispiel großen Höhen umzugehen. Sie werden virtuell mit der angstauslösenden Situation konfrontiert, wie Chefarzt PD Dr. med. Fritz-Georg Lehnhardt erklärt: „Ziel ist es, dem Patienten zu vermitteln, dass die angstauslösende Situation nicht gefährlich ist und er durch die regelmäßige und schrittweise Konfrontation mit diesen harmlosen Auslösern die Angst davor verliert.“ Das Verfahren soll ähnlich erfolgreich sein wie die klassische Verhaltenstherapie. 

VR für Patienten. AR für Mediziner

Während VR die kleinen Patienten beruhigen kann, ist die andere Technologie – Augmented Reality – auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte eine immer spannendere Option. Bereits Mitte des 21. Jahrhunderts werden AR-unterstützte OPs Standard sein, prognostiziert Professor Dr. Thomas Neumuth, Technischer Direktor des Innovationszentrums für computerassistierte Chirurgie am Uniklinikum in Leipzig im „Red Bulletin“.

Die Kinderchirurgie testet schon jetzt AR-gestützte Verfahren: Kardiologische OPs gehören zu den schwierigsten Eingriffen, und es wird noch komplexer, wenn es darum geht, kleine, walnussgroße Kinderherzen zu operieren. Visualisierungstechniken wie Cinematic Rendering liefern zwar eine detaillierte 3D-Ansicht des Patientenherzens und der umgebenden Anatomie. Ein Hologramm dagegen kann, gedreht, gezoomt und aus allen möglichen Perspektiven betrachtet werden.

Quellen

  • Medical Design & Outsourcing; How virtual reality can improve pediatric care, 2023
  • Holograms transform medical education and training at Imperial | Imperial News | Imperial College London.
  • VR-Marktprognose, vgl. Valuates Reports, Global Opportunity Analysis and Industry Forecast, 2021–2030
  • Siemens Healthineers, „Das gläserne Herz“, von Marc Engelhardt, 2021.
  • Die Medizin der Zukunft: Roboter, Diagnosen, Impfstoffe. „Red Bulletin“ Innovator, Autor: Muamer Bećirović & Günther Kralicek, 28.04.2023
  • Virtuelle Realität: Wie in einem Pilotprojekt Kindern im Krankenhaus mit Virtual Reality-Brillen geholfen wird. Autor: Katharina Hofmann, Magazin „Du bist ein Gewinn“ der DFL
  • Virtual-Reality-Brillen für kranke Kinder – Um Angst und Schmerzen zu nehmen
    https://www.immersivelearning.news
  • EVK setzt auf Virtual-Reality zur Behandlung von Angststörungen, EVK, in-gl.de, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Evangelischen Krankenhauses Bergisch Gladbach
     

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