KI & Robotics

KI-Hype – Mythen sind gefährlich und langlebig!

Künstliche Intelligenz ist im Digitalen zum Buzzword der Buzzwords geworden, findet ERGO CDO Mark Klein. Es werde vieles als KI gelabelt, was tatsächlich meilenweit davon entfernt sei. Diese Übertreibungen, diese Mythen seien in zweierlei Hinsicht gefährlich. Einerseits verschwimme mit den Übertreibungen der Blick darauf, wo KI wirklich helfen kann und wo nicht. Andererseits schüre es die Angst derer, die KI die Weltherrschaft zutrauen.

 

Mein Arbeitsweg ist vermutlicher einer der schönsten in Düsseldorf: Von zu Hause bis zu meinem Büro fahre ich einige Kilometer geradeaus am Rhein entlang. Fast immer mit dem Fahrrad, manchmal höre ich dabei einen Podcast. Ich liebe Podcasts! Mal ein Feature über neue Unterrichtsformen oder Richard David Precht, der digitale Ethik einfordert. Die Ideen für neue Höreindrücke liefert mir der Algorithmus meiner Streaming-App. Die Künstliche Intelligenz (KI) leistet gute Arbeit, sie trifft meinen Geschmack inzwischen präzise.

Mythen sind gefährlich

KI ist allgegenwärtig. Wir tragen sie ständig mit uns herum und haben uns an die Services von Musikauswahl über Navigation bis hin zur Smartphone-Assistenz per Voice gewöhnt. Aber auch auf der Straße mit intelligenten Verkehrsleitsystemen, in der Medizin mit Algorithmen, die MRT-Bilder besser lesen können als Radiologen, in der Verbrechensbekämpfung oder in der Kunst – KI ist überall. Sie ist sogar so verbreitet, dass der TÜV Verband jetzt einen TÜV für alles ins Spiel bringt, was KI in sich trägt. Dann braucht mein Handy künftig, wie mein Auto, eine Plakette.

Ich begrüße das „allgegenwärtig“, es macht das Leben (meist) leichter. In diesem Beitrag aber möchte ich den Blick auf etwas legen, was dem Erfolg von KI eher schadet als nützt. KI ist im Digitalen zum Buzzword der Buzzwords geworden. Es wird vieles als KI gelabelt, was tatsächlich davon entfernt ist. Diese Übertreibungen, diese Mythen sind in zweierlei Hinsicht gefährlich. Einerseits verschwimmt mit den Übertreibungen der Blick darauf, wo KI wirklich helfen kann und wo nicht. Andererseits schürt es die Sorgen derer, die KI die Weltherrschaft zutrauen.

Es wird vieles als KI gelabelt, was tatsächlich weit davon entfernt ist

Als Chief Digital Officer einer Versicherung habe ich mir Nüchternheit vorordnet. Versicherungen wie ERGO investieren massiv in KI. Zwar sehe ich die Finanzbranche im Industrievergleich noch im Mittelfeld, aber der Trend geht klar noch oben. Gerade deshalb wollen wir jenseits des Hypes die Stärken von KI für unsere Prozesse ausspielen. Andererseits wollen gerade wir als Versicherer verantwortlich mit den ethischen Aspekten umgehen. Und dazu gehört auch, zu sagen, dass die Sorge vor KI, die irgendwann über dem Menschen steht, in weiten Teilen unbegründet ist.

Diese latente Angst haben wir möglicherweise dem besten Schachspieler der Welt zu verdanken. Als Gari Kasparow 1997 gegen den Computer "Deep Blue" verlor, da erfuhr der Mythos der allmächtigen KI einen grandiosen Schub. Aber gewonnen hatte Deep Blue wohl, weil ihn die Programmierer vermenschlicht hatten: Deep Blue zögerte, schien unsicher – alles ein programmierter Bluff – der in Summe wirkte. Kasparow verlor.

Deep Blue vs Kasparov: How a computer beat best chess player in the world - BBC News

 

In Wirklichkeit ist ein vierjähriges Kind auch der artifiziellsten KI noch immer weit überlegen. Die britische Mathematikerin und Autorin Hannah Fry sieht uns weit entfernt selbst von einer künstlichen „Intelligenz auf dem Niveau eines Igels“. Ein Beweis ist der RoboCup, ein Roboterturnier, den eine Forschergruppe in den USA vor langem initiierte. Ziel war es, bis 2050 Roboter zu programmieren, die besser Fußball spielen könnten als Menschen. Inzwischen sagt die Mitinitiatorin Manuela Veloso, es werde noch Jahre dauern, bis ein zweibeiniger Roboter (überhaupt erst einmal) laufen kann wie ein Mensch.

Robocup 2019 SPL Final - HTWK vs. B-Human

 

Ein vierjähriges Kind ist auch ausgeklügelsten KI überlegen

Wer die KI-Community grob gesprochen in die Kategorien schwache, starke und superstarke KI unterteilt, muss man festhalten, dass für superstarke = Null, für starke = fast keine und für schwache = 98 Prozent aller KI-Anwendungen stehen. Alles was wir heute als KI bezeichnen, bewegt sich fast ausschließlich im schwachen bzw. Artificial Narrow Intelligence Bereich. Also sehr konkrete, abgegrenzte Anwendungsbereiche, die auf Machine-learning-Algorithmen basieren.

Mein Vorschlag ist deshalb: entmystifizieren und den Blick für die Dinge freibekommen, die wir heute schon mit KI lösen können. Und das sind beeindruckend viele (wenn auch nicht so aufregend, wie ein kickender Roboter).

Im „schwachen“ Bereich gibt es jede Menge zu tun, zu lösen und zu lernen. Wir bei ERGO werden immer stärker in schwachen KI. Innerhalb von zwei Jahren haben wir ein 27-köpfiges, Experten-Team aufgebaut, das inzwischen in Serie Kunden- und Leistungsprozesse effektiver und effizienter macht. Unsere Algorithmen sind kleine, akribische Helfer für die Kollegen/innen in den Leistungsabteilungen. Dabei entfalten sie jedoch beachtlich hohe Wirkungsgrade.

Mein Vorschlag ist deshalb: Entmystifizieren und den Blick für die Dinge freibekommen, die wir heute schon mit KI lösen können

In der Krankentagegeldversicherung schlägt eine Gradient Boosting (anstelle von Deep Learning) nutzende KI auf Grundlage von Attributen wie Beruf, Alter und Diagnosen den Kollegen/innen vor, wo sie Stichprobenkontrollen durchführen sollten. Das erspart vielen Kunden nicht notwendige Kontrollen – und der Versichertengemeinschaft bares Geld: bisher über zehn Millionen Euro.

Ein anderer Algorithmus nimmt sich mittels Deep-Learning-Ansatz („Word Embeddings“) den Kunden E-Mails an, die keinem Empfänger (300.00 Mails pro Jahr) zugeordnet ist – und schiebt sie an die richtigen Postkästen weiter.

Eine gerade fertig gestellte Lösung hilft dabei, mehr Kundenvorgänge „dunkel“ zu halten. Dunkel meint, die Kundenanliegen werden vollautomatisiert verarbeitet ohne dass ein Mitarbeiter/in eingreifen muss (muss er doch eingreifen, sprechen wir von „hell“). Bei 5,7 Millionen Arztrechnungen zu ambulanten Behandlungen pro Jahr hilft jedes Promille, das dank KI dunkel bleiben kann. 

Bei 5,7 Millionen Arztrechnungen pro Jahr hilft jedes Promille, das dank KI dunkel bleiben kann    

Ich glaube, dass wir als Versicherer bei KI auch deshalb rasant aufholen werden, weil wir einerseits extrem viel Daten produzieren und verwalten, wir andererseits höchst vorsichtig mit Datenverarbeitung umgehen. Auch schwache KI mit der Intelligenz eines Wurms kann schaden.

Andersherum ist ein Algorithmus nicht per se schlecht oder feindlich. Er ist so gut oder so schlecht, wie er angelernt wurde. Leitplanken spielen deshalb für uns eine wichtige Rolle. Immer wenn ich auf dem Weg zum KI-Team bin, komme ich an dem großen Board mit den KI-Kodex vorbei. Das ist gut und richtig so!

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