Cynefin? Gesundheit! Nein, nein, Cynefin ist kein neuer Virus. Es handelt sich hierbei um ein Modell zum Wissensmanagement, das bereits vor 20 Jahren von dem walisischen Gelehrten Dave Snowden entwickelt wurde. Dabei ging er der Frage nach, welche unterschiedlichen Herangehensweisen es gibt, um Herausforderungen zu meistern. Hannes Kropf, agiler Coach und Projektleiter bei ITERGO, beschreibt, wie ihm das Modell geholfen hat, gelassener mit den Herausforderungen durch die Pandemie umzugehen.
Von Hannes Kropf, agiler Coach und Projektleiter bei ITERGO
Ich bin überzeugt: Das Cynefin-Modell kann uns helfen, mit der nächsten Krise besser umzugehen. Damit können wir etwas für unsere Resilienz tun und trotz aller Unwägbarkeiten optimistisch in die Zukunft schauen.
Cynefin ist ein walisisches Wort und bedeutet Umgebung oder Habitat. Ausgesprochen wird es [Kü-nä-wi-en] oder [Kü-nä-win]: https://de.forvo.com/word/cynefin/
Bevor ich den Zusammenhang zu den Herausforderungen der Corona-Pandemie beschreibe, erkläre ich kurz das Modell mit seinen fünf Bereichen.
Im klaren Bereich gibt es eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, die für jede Person nachvollziehbar ist. Jeder Mensch kann diese Beziehung verstehen. Sie zeigt zeitlich in die Zukunft. Ein Beispiel für ein Planen und Handeln im klaren Bereich ist das Kochen nach Rezept. Alles, was ich mit einer einfachen Aufgabenliste abhaken kann, fällt in diesen Bereich.
Um Herausforderungen in diesem Bereich zu lösen, muss ich Prüfen, Kategorisieren, Antworten. Ich kann bewährte Praktiken (best practice, meistens gibt es nur eine) anwenden.
Im komplizierten Bereich besteht die gleiche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Sie ist für Experten ersichtlich und erklärbar.
Wenn ich verstehen will, warum mein Digital-Radio lauter wird, wenn ich am Lautstärkeregler drehe, muss ich einen Physiker befragen. Dieser erklärt mir, wie die Transistorschaltung im Radio den Strom im Lautsprecher verstärkt.
Klassisches Projektmanagement orientiert sich am Handeln im komplizierten Bereich. Die Experten vermitteln dem Projektleiter ihr Wissen. Gemeinsam entwickeln sie einen validen Projektplan. Hier geht man mittels Prüfen, Analysieren, Antworten heran, und man kann gute Praktiken (good practice, es gibt häufig mehrere) anwenden.
Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist im komplexen Bereich zeitlich in die Vergangenheit gerichtet. Ich kann meine Herausforderung erst im Nachhinein verstehen. Wie bei einem Familienstreit. Ich weiß, dass es zu Weihnachten Streit gibt. Aber ich weiß im Voraus nicht, wer beteiligt ist und um welches Thema es geht. Hinterher bin ich schlauer: Onkel Erwin und Tante Martha haben sich dieses Jahr um die Familienfinanzen gestritten.
Forscher probieren aus und experimentieren, um zu erklären, warum eine Sache sich verhält, wie sie sich verhält. Dabei wird versucht, das Experiment in einem sicheren Kontext durchzuführen. Im Chemielabor wird zuerst mit geringen Mengen an Substanzen gearbeitet. Wenn man den Zusammenhang begriffen hat, werden größere Mengen genommen.
Hier ist der Ansatz Ausprobieren, Prüfen, Antworten und man kann dann Praktiken im Entstehen (emergent practice) feststellen.
Im chaotischen Bereich kennt niemand die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Zusätzlich gibt es einen hohen zeitlichen Handlungsdruck.
Ein Hausbrand ist für eine Feuerwehr jedes Mal eine neue Situation. Trotzdem hat sie sich durch regelmäßiges Training und Übung darauf vorbereitet, dass sie auch mit dieser unbekannten Situation umgehen kann. Zusätzlich muss sie so schnell wie möglich handeln.
Hier ist der Ansatz Handeln, Prüfen, Antworten, und man kann neue Praktiken entdecken.
Wenn man die Herausforderung keinem der vier Bereiche zuordnen kann, landet man in der Unordnung.
Hier reagiert man mit dem, was man am besten kann, man geht in die eigene Komfortzone zurück: Viele handeln zunächst analog zum klaren oder den komplizierten Bereich. Menschen mit einem agilen Mindset fühlen sich möglicherweise im komplexen Kontext zuhause und Mitarbeiter aus Katastrophenstäben im chaotischen. Häufig landen sie alle im falschen Bereich.
Aus meiner Erfahrung heraus schaue ich aus ungeordneten Situationen erst einmal auf den Handlungsdruck, bevor ich mich in Abhängigkeit davon für den kaotischen oder komplexen Bereich entscheide. Im Weiteren prüfe ich, ob mir Experten bei der Problemlösung helfen können. Wenn es keine Experten gibt, bleibe ich im komplexen Bereich. Wenn es aber welche gibt, sollte es gelingen, in eine handhabbarere Situation im komplizierten Bereich zu wechseln. Eine einfache Aufgabenliste wird dabei nicht helfen.
Wenn man nun also versucht, die verschiedenen Herausforderungen im Kontext mit der Corona-Pandemie den unterschiedlichen Cynefin-Bereichen zuzuordnen, sind manche Entscheidungen, die von Politikern, Forschern und Teilen der Bevölkerung getroffen wurden, etwas besser nachzuvollziehen.
Was kann uns das Modell noch verdeutlichen? In all diesen Bereichen gibt es Lern-Schleifen, in denen regelmäßig überprüft wird, wie eine Herausforderung besser gelöst werden kann. Es muss darum gehen, wie Vorgehensweisen und Entscheidungen, die gut funktioniert haben, gestärkt werden können und wie man Dinge, die nicht optimal liefen, verbessern kann. Hier sind wir alle eingeladen, uns diesem Lernprozess zu stellen.
Wer Lust hat, das Cynefin-Modell genauer zu durchdenken, dem empfehle ich das Buch „Cynefin – weave sense-making into the fabric of our world“ von Dave Snowden & Friends.
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