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Fahrzeugdaten – Treibstoff für die Versicherung? 

Die Transformation des Autos zu einem vernetzten Datenträger mit immer mehr Technologie unter der Haube schafft alternative Möglichkeiten der Risikobewertung in der Kfz-Versicherung. Die Nutzung der Daten sei allerdings beschränkt, mahnt ERGO Vorstand Karsten Crede: „Aktuelle Telematik-Lösungen stoßen an ihre Grenzen, da die Versicherer keinen unmittelbaren Zugriff auf die Fahrzeugdaten haben.“ Ein vielversprechender Ansatz für die Optimierung bestehender Risikomodelle liege daher in der Kombination von Fahrverhaltensdaten und Nutzungsdaten der Assistenzsysteme.

Für kaum eine andere Branche und ihr Geschäftsmodell sind Daten so elementar wie für die Versicherungsbranche. Wir haben gelernt, auf Basis von Daten nahezu alle vorstellbaren Risiken adäquat zu bewerten und zu versichern. Auch mit Blick auf die Kfz-Versicherung hat sich ein stabiles, wenn auch statisches Modell etabliert.

Die Aktuare ermitteln den erwarteten Schadenbedarf und somit auch die Prämien auf Basis von Größen wie Typklasse, Schadenfreiheitsklasse, Wohnort, Alter und vielen anderen Faktoren. Leider ist die zugrundeliegende Prozesslandschaft sehr komplex, und im Bemühen um Wettbewerbsdifferenzierung und versicherungstechnische Exzellenz wurden immer mehr Parameter eingeführt, die zu einem Wust an Fragen und hohem Verwaltungsaufwand gegenüber dem Autoversicherungskunden geführt haben. Selbst digitale Tools wie Vergleichsplattformen basieren auf komplexen analogen Prozessen und vergleichen lediglich Preise auf Basis weitgehender Leistungsidentität der Produkte.


Mit der Transformation des Autos zu einem vernetzten Datenträger mit immer mehr Technologie unter der Haube ändert sich jedoch die Ausgangslage. Leistungsstarke Assistenzsysteme und Sensoren, moderne Software und immense Rechenleistungen an Bord der Fahrzeuge produzieren Unmengen an Daten – pro Tag im Terrabyte-Bereich. Schon vor zehn Jahren wurden Daten zur GPS-Position, zur Häufigkeit der elektronischen Gurtstraffungen oder den befahrenen Straßentypen erhoben – mittlerweile sind die Optionen um ein Vielfaches höher.

Für die Versicherer stellt sich nun die Frage, welche risikotechnischen Ableitungen die Daten ermöglichen und ob man mit ihrer Hilfe das Geschäftsmodell der Autoversicherung grundlegend digitalisieren kann. Zunächst werfen wir einmal ein Blick auf das, was technisch möglich ist.


Von Sensoren und Kameras aufgezeichnete Umfeld-Daten ermöglichen die Rekonstruktion von Unfallhergängen, die Klärung von Schuldfragen oder auch die Identifikation möglicher Betrugsfälle. Auffahrunfälle und Zusammenstöße werden erfasst und automatische Notrufe abgesetzt. Es lässt sich lückenlos nachvollziehen, welche Assistenzsysteme zu welchem Zeitpunkt aktiv waren und – mit Blick auf autonome Fahrfunktionen – wem im Falle eines Unfalls die Verantwortung zuzuordnen ist, dem Fahrer oder dem Fahrzeug.

Fahrzeugdaten können zudem dazu dienen, dem Nutzer weitere für ihn relevante Versicherungsangebote und Services zu unterbreiten. Ein einfaches Beispiel ist eine Reiseversicherung, die auf Basis von GPS-Daten oder etwaigen Zielen im Navigationssystem angeboten wird. Denkbar sind aber auch intelligente Garantieprodukte, die auf realen Zustandsdaten der einzelnen Bauteile fußen. Die Liste der digitalen und datenbasierten Anwendungsmöglichkeiten wird immer länger.

Genauere Risikomodelle für die Kfz-Versicherung 

Entscheidend ist aber vor allem die Frage, ob es möglich ist, im Unterschied zum heutigen Ansatz durch die Nutzung von Fahrzeugdaten genauere und bessere Risikomodelle für die Kfz-Versicherung zu entwickeln. Kfz-Versicherungsangebote, die verhaltensbasierte Fahrdaten berücksichtigen, hat heute schon nahezu jeder Versicherer im Portfolio – sogenannte Telematik-Tarife. Vereinfacht gesagt wird das bestehende Risikomodell dabei um einen „Fahrstil-Faktor“ ergänzt. Determiniert ist dieser Faktor durch Beschleunigungswerte, Kurvengeschwindigkeiten oder auch die Anzahl abrupter Bremsmanöver.

Die heutigen Ansätze haben aus meiner Sicht jedoch zwei entscheidende Schwächen: Zum einen gibt es keine wirklichen Konsequenzen, also höhere Prämien, für riskantes Fahrverhalten. Die „erfahrenen“ Rabatte werden ausschließlich über einen reduzierten Schadenbedarf „finanziert“, der sich automatisch bei den Nutzern dieser Angebote durch einen vorsichtigeren Fahrstil einstellen soll. Ohne diese Prämisse würden Telematik-Produkte schlagartig an Akzeptanz verlieren. Gerade in einer Zeit, die „voll auf Flatrate“ ausgerichtet ist, etwa beim Streamen von Filmen und Musik oder auch bei der Smartphone-Nutzung, wären Angebote mit plötzlichen Mehrkosten nicht mit den zentralen Kundenanforderungen vereinbar.

Zum anderen fehlt der unmittelbare Zugriff auf die Fahrzeugdaten. Die für den Telematik-Tarif notwendigen Daten müssen über externe Geräte wie Dongels oder Smartphones generiert werden. Das limitiert die Qualität und Vollständigkeit der Modelle. HUK-Coburg-Vorstand Jörg Rheinländer veranschaulichte diese Problematik zuletzt mit einem sehr guten Beispiel: So könnte ein bestimmtes Bremsmanöver viel besser bewertet werden, wenn zusätzlich Daten vom Regensensor zur Verfügung stünden und man wüsste, ob die Straße nass oder trocken war. 

Fahrverhaltensdaten mit Nutzungsdaten der Assistenzsysteme kombinieren

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Daten zum reinen Fahrverhalten, also unter anderem Bremsen, Beschleunigen, Geschwindigkeit, tatsächlich die Güte der Risikomodelle ausreichend verbessern. Meine These ist, dass die höchste Aussagekraft in der Kombination von Fahrverhaltensdaten mit Nutzungsdaten der Assistenzsysteme liegt. Wichtig wäre deshalb zu wissen, wie häufig ein Notbremsassistent oder ein Front Collision Warner eingesprungen sind, in welchem Ausmaß der Parkpilot genutzt wurde oder wie oft Spurhalte- und Spurwechsel-Assistenten eingreifen mussten.

Ein erstes, wenn auch noch ausbaufähiges Modell ist der Safety Score von Tesla. Die mathematische Berechnung dieses Score-Wertes stellt Tesla auf seiner Homepage zur Verfügung. Insgesamt acht Faktoren fließen in diesen Wert ein. Sieben dieser Faktoren sind verhaltensbasiert, beziehen sich also im engeren und weiteren Sinne auf das Fahrverhalten. Ein einziger Faktor bezieht sich auf ein Assistenzsystem – ganz konkret geht es um die Anzahl der Front Collision Warnings.

Schaut man genauer hin, so erkennt man, dass, selbst wenn alle sieben „Verhaltens-Faktoren“ den schlechtesten Wert abbilden und lediglich der „Assistenzsystem-Faktor“ optimal ist, der finale Score-Wert immer noch 94,6 (100 ist Maximalwert) beträgt. Eine Interpretationsmöglichkeit wäre, dass schon ein einziges Assistenzsystem mehr Informationen zum Schadenbedarf liefert als sieben verhaltensbasierte Faktoren. Eine Ferndiagnose, ob die Erklärfähigkeit der verhaltensbasierten Faktoren tatsächlich so niedrig ist oder ob der Score-Wert eher Marketinginstrument als versicherungsmathematisches Werkzeug ist, soll hier nicht gestellt werden.

Einen umfassenden Ansatz, bei dem mehrere Fahrerassistenzsysteme in die Risikobewertung einfließen, wird aktuell vom Mobility Technology Center von ERGO und dem Entwicklungs- und Software-Spezialisten in-tech entwickelt. Ziel ist eine voll-integrierte, digitale und datenbasierte Versicherungslösung, die auf den Daten der verbauten Assistenzsysteme beruht. Anders als bei Telematik-Ansätzen sollen Datenerhebung und Risikobewertung unmittelbar durch das Fahrzeug erfolgen.

Erprobt werden herstellerunabhängige und übertragbare Ansätze, bei denen über originäre Schnittstellen wie ODB-II oder CAN-Bus Daten von bis zu zwölf Assistenzsystemen, beispielsweise Adaptive Cruise Control, Park Pilot und Spurwechselassistent erhoben werden, um deren Wirkungsgrade sowie den entsprechenden Einfluss auf den Schadenbedarf zu quantifizieren – alles natürlich immer unter der Prämisse der obersten Datenschutzkonformität. 


Neben der Kfz-Versicherung ergeben sich auch noch weitere interessante Anwendungsmöglichkeiten für datengetriebene Lösungen, etwa mit Blick auf die Hochvolt-Batterien und eine werthaltige Wiedervermarktung von Elektrofahrzeugen auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Für entsprechende Gebrauchtwagenprogramme, Batterie-Zertifikate oder auch interaktive Tipps zum batterieschonenden Fahren braucht es stabile Prognosemodelle, die nur mit Hilfe echter Fahrzeugdaten entwickelt werden können.

Erfolgskritisch bleibt bis auf Weiteres der Zugriff auf die Daten. Aktuell haben die Autohersteller die Verfügungsgewalt, was von Versicherern, Werkstätten und Automobilclubs sehr kritisch gesehen wird. Der GDV forderte erst Anfang des Jahres ein Ende des Datenmonopols der Hersteller. Auch der ADAC hat sich klar positioniert und fordert, dass die Daten denjenigen gehören sollten, die sie „produziert“ haben – und das sind die Fahrer. 

Der EU Data Act, der 2025 in Kraft treten soll, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, jedoch ist er sehr allgemein gehalten. Er gilt zum Beispiel auch für vernetzte Kühlschränke und Fernseher. Es darf daher durchaus bezweifelt werden, dass er der komplexen Gesamtgemengelage rund um die Fahrzeugdaten gerecht wird. Zielführend wäre eine dezidierte Regulierung, die die speziellen Anforderungen von Herstellern, Versicherern, Nutzern und allen anderen Stakeholdern berücksichtigt.

In Summe bin ich überzeugt davon, dass in den Daten moderner, vernetzter Fahrzeuge enormes Potenzial liegt. Das Ziel muss sein, digitale Versicherungslösungen für alle Vertriebskanäle auf Basis einfacher Prozesse zu etablieren. Der Kunde muss komplett befreit werden von jeder vermeidbaren Administration. Beispielgebend für die Versicherungsbranche sehe ich hier die Qualitätsanmutung von Bosch-Produkten im Auto – man sieht sie nicht, hat aber ein gutes Gefühl, wenn sie an Bord sind. 

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