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Predictive Maintenance: Smarte Lösungen für wettbewerbsfähige Industrieunternehmen

Ein relevanter Aspekt im Bereich der sogenannten „Industrie 4.0“, sprich der Digitalisierung von Industrieabläufen, ist die vorausschauende Instandhaltung. Von Predictive Maintenance ist dann die Rede, wenn mittels KI, Maschinenlernen und anderen komplexen Verfahren Daten aus Industrieanlagen und ihrem Umfeld ausgewertet werden, um den optimalen Wartungszeitpunkt zu ermitteln. Mit anderen Worten und etwas despektierlich formuliert: Das analoge „Die Maschine klingt komisch, das sollten wir mal checken“ wird ersetzt durch eine umfassende digitale Analyse aller vorhandenen Daten, die für den Betrieb der Maschine relevant sind.

Ein Experte auf dem Gebiet von Predictive Maintenance ist Dr. Matthias Haun, Professor für Kognitive Kybernetik und Philosophie der Kognitionswissenschaften. Er leitet an der Hochschule Offenburg in der Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik das Projekt „Predictive Maintenance“. Gefördert durch die Carl-Zeiss-Stiftung arbeiten er und sein Team daran, die vorausschauende Instandhaltung als „Lösung“ marktfähig zu machen – vor allem für kleinere und mittelständische Unternehmen/Betriebe. Gemeinsam mit David Gelantia , stellvertretender Leiter des Projekts „Predictive Maintenance“, erläutert Professor Dr. Haun, was er sich von Predictive Maintenance verspricht und welche Chancen er in diesem Ansatz sieht. Die erste Frage, die sich bei solchen Projekten stellt, bezieht sich auf die Rentabilität. 

Wo liegen die Vorteile eines doch sehr komplex und aufwändig klingenden Ansatzes gegenüber der bisherigen Wartungspraxis, die festen zeitlichen Intervallen folgt und nur im Falle von „Auffälligkeiten“ aus dem Wartungsrhythmus ausschert? 

„Feste Wartungsintervalle sind nicht immer sinnvoll, weil sie nicht dem realen Wartungsbedarf einer Industrieanlage entsprechen. Bei einer regelmäßigen Wartung wird entweder zu oft gewartet oder es kommt zu Störungen, weil der nächste Wartungstermin zu weit entfernt liegt. Beides ist mit hohen Kosten verbunden“, erläutert Dr. Matthias Haun und erklärt weiter: „Sie dürfen den Aufwand für die Instandhaltung einer Industrieanlage nicht unterschätzen. Um eine große Produktionsanlage warten zu können, muss das gesamte System für Tage heruntergefahren werden. Da steht der ganze Laden drei oder vier Tage still. Die Kosten dafür sind enorm. Gleiches gilt für eine Störung.“

Dr. Matthias Haun, Professor für Kognitive Kybernetik und Philosophie der Kognitionswissenschaften an der Hochschule Offenburg

Wie kann Predictive Maintenance aufwändige Wartungskosten verhindern?

„Eine vorausschauende Wartung basiert auf einer multimodalen Analyse aller relevanten Maschinen- Prozess- und Umfeld-Daten. Ziel ist es, sowohl Störungen als auch unnötige Regelwartungen zu verhindern. Eine Instandhaltung wird nur dann gemacht, wenn sie wirklich notwendig ist und idealerweise bevor eine Störung auftreten kann. Das spart Milliarden. Derzeit gehen wir davon aus, dass in vielen Fällen bis zu 30 Prozent der Wartungskosten mit Predictive Maintenance eingespart werden können. Das ist eine enorme Kostenreduktion“, so Haun. David Gelantia ergänzt: „Wenn es gelingt, vor einer Störung aktiv zu werden und Ausfälle an den Maschinen zu verhindern, dann kann ein Unternehmen dadurch langfristig entscheidende Wettbewerbsvorteile generieren.“

David Gelantia, stellvertretender Leiter des Projekts „Predictive Maintenance“

Analyse von Maschine und Umwelt – Klingt komplex, oder?

Professor Matthias Haun erläutert hierzu: „Ja, das ist enorm komplex, daher können die Daten auch nicht über herkömmliche Verfahren berechnet werden. Es braucht neue Möglichkeiten aus der Künstlichen Intelligenz-Forschung wie Modell-Lernen, KI etc., um valide Vorhersagen treffen zu können. Die Komplexität ist enorm. Und es bedarf einer großen Menge (an) Daten aus unterschiedlichsten Quellen; also etwa Zustandsdaten, Umfelddaten, Wetterdaten, Managementdaten.“ David Gelantia ergänzt: „Wir analysieren nicht nur eine Reihe von Faktoren, die wir von der Industrieanalage sammeln, sondern auch Faktoren aus dem räumlichen Umfeld wie etwa Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit.“

Ist denn ein solches Projekt für den Mittelstand überhaupt finanzierbar?

Kybernetiker Matthias Haun ist sich sicher: „In jedem Fall macht Predictive Maintenance auch für den Mittelstand und gerade kleine Unternehmen Sinn. Die Großen sind in dem Thema schon lange aktiv, für sie sind die Chancen klar erkennbar und die Investition stellt kein Problem dar. Für die mittleren und kleinen Unternehmen ist das nicht so einfach. Es bedarf einer umfassenden Vorabanalyse, um herauszubekommen, wieviel Investitionen mit der vorausschauenden Instandhaltung verbunden sind und ab wann sich das Ganze lohnt. Aber gerade der Mittelstand kann sich weder hohe Wartungskosten noch viele Ausfälle leisten. Es ist aber natürlich eine große Hürde, ein Projekt dieser Größe einzukaufen und umzusetzen. Da sind viel Vorlauf und Überzeugungsarbeit notwendig, denn der Erfolg zeigt sich oft erst nach drei bis vier Jahren – eine sehr lange Zeit für Unternehmen.“

Für wen funktioniert denn Predictive Maintenance, wann macht es Sinn?

„Eigentlich funktioniert Predictive Maintenance für jedes Unternehmen. Bei neuen Maschinen ist es selbstverständlich einfacher. Ich arbeite auch in Asien, das ist aber nicht vergleichbar: Man startet dort oftmals auf einer grünen Wiese und baut die Industrie voll digital komplett nach den neuesten Standards auf. Hierzulande hat man es dagegen oftmals mit jahrzehntealten Anlagen zu tun, die zunächst einmal keine Daten hergeben. Eine Mess-Sensorik und die Datenübertragung müssen also nachgerüstet werden“, so der 56-jährige Professor und Unternehmer. 


Ist ein digitales Nachrüsten alter Maschinen denn möglich?

„Ja, im Grunde immer. Es gibt inzwischen eine Reihe von Sensoren, die man an die Maschinen anbringen kann – oftmals sozusagen „minimal invasiv“. So werden beispielsweise Mess-Sensoren für Temperaturen, Feuchtigkeit, Druck etc. nachträglich angebracht. Auch Audio-Messungen werden durchgeführt. Bei einigen Rohrsystemen kann man über eine Audiomessung hören, ob alles in Ordnung ist. Wir machen vor keiner Maschine halt. Die Ermittlung der Maschinen-Daten ist jedoch nicht immer der einfachste Teil des Projektes“, macht der studierte Informatiker und Philosoph klar. 

Allerdings sei die technische Ausrüstung der Maschinen selbst nur ein kleiner Teil, Predictive Maintenance – wie viele Aspekte der Digitalisierung – sind mit einem grundlegenden Change-Prozess verbunden. Man müsse die Prozesse ändern, es müsse vor Ort Experten für das Thema geben, die verstehen, was gemacht wird, die Umfelddaten müssten erfasst werden zum Beispiel. Professor Haun: „Ein Projekt dieser Art aufzusetzen in einem bestehenden Betrieb ist äußerst aufwändig und umfassend. Es müssen von Anfang an alle Beteiligten mitgenommen werden, und der Erfolg stellt sich nicht von heute auf morgen ein. Es muss also in der Geschäftsführung die Überzeugung herrschen, dass Predictive Maintenance ein lohnendes Verfahren ist. Das ist heute oftmals noch nicht der Fall.“

Gelingt vorausschauende Wartung mit guten Technikern nicht auch nach dem Baugefühl?

Das Bauchgefühl erfahrener Mitarbeiter sei tatsächlich nicht zu unterschätzen, finden Matthias Haun wie auch David Gelantia. Ihrer Erfahrung nach sei der Faktor Mensch ein wesentlicher bei der vorausschauenden Wartung: „Gute Techniker wissen tatsächlich sehr viel über ihre Maschinen. Darüber hinaus haben sie einen Blick auf das Umfeld: Welche Mitarbeitenden arbeiten an der Anlage? Wie gut ist ihre Qualifikation, wie sorgsam gehen sie mit der Technik um? Wie sauber ist die Halle? Wie sorgsam sind Chefs und Führung? Welche Materialqualität wird eingesetzt? Alle diese Faktoren spielen eine große Rolle und führen im Laufe der Jahre zu einem Erfahrungsschatz, der dem maschinellen Ansatz erst einmal fehlt.“ Für das Team in Offenburg war daher klar, dass dieses Wissen Teil ihres Projektansatzes werden muss: „Wir machen zu Beginn Workshops mit den verschiedenen Teams und Technik-Experten, um dieses Wissen in das Projekt zu integrieren. Dieses menschliche Wissen wird formalisiert und in unsere Datenbasis eingespeist. Man nennt das Knowledge Engineering. Denn die reinen Messdaten allein reichen für einen großen Optimierungseffekt nicht aus. Erfahrungswissen darf nicht fehlen.“ 

Insgesamt sei der an der Hochschule Offenburg verfolgte Ansatz sehr umfassend und dadurch besonders komplex. Das mache die Akzeptanz nicht einfacher, sei aber gerade für den Mittelstand wichtig, und zwar aus zwei Gründen: „Zum einen lohnt sich ein Projekt dieser Größe nur, wenn wirklich am Ende eine nachhaltige Einsparung damit verbunden ist, zum anderen verliert der Mittelstand mehr und mehr seine erfahrenen Experten in die Rente. Aufgrund des Fachkräftemangels fehlt es an Nachwuchs.“ Dies bedeute, dass neue Wege gefunden werden müssten, um das „Bauchgefühl“ von heute zu ersetzen.

Predictive Maintenance – Eine weitere Datenkrake?  

Wenn man die Ausführungen von Professor Dr. Matthias Haun und David Gelantia hört, dann wird klar, wie umfassend die Datenanalyse ist, auf der Predictive Maintenance basiert. Besteht in mittleren und kleinen Unternehmen überhaupt die Bereitschaft, diese Daten herauszugeben und einen derart tiefen Einblick zu gewähren?

Die Bereitschaft dazu sei unterschiedlich, so die Erfahrung der Offenburger Forscher: „Es gibt natürlich Widerstände und Bedenken, wie bei jeder einschneidenden Veränderung. Aber viele Ängste lassen sich durch Einbindung der Beteiligten durchaus nehmen. Betriebsräte seien beispielsweise oftmals sehr erfolgreich in die Projekte eingebunden. Was die Daten betrifft, so möchten die meisten Unternehmen diese im Haus behalten und selbst auswerten. Das ist auch möglich, verlangt aber das notwendige Know-how. Eine Auslagerung der Daten an einen externen Dienstleister ist aber für viele auch eine akzeptable Variante.“

Die große Herausforderung nach Sicht von Haun ist weniger die Datenmenge, die sichtbar gemacht werden muss, sondern die Expertise, mit dieser komplexen Datenbasis zu arbeiten: „Das Schwierigste ist es, die Daten zu lesen und sinnvoll nutzbar zu machen. Dafür müssen kompetente Experten zur Verfügung stehen. Es ist nicht unser Ziel, dem Unternehmen ein schickes Dashboard an die Hand zu geben und es dann damit allein zu lassen. Wir wollen Predictive Maintenance in der Praxis ans Laufen bekommen und der Unternehmensleitung den Return of Invest (ROI) anhand klarer Ergebnisse aufzeigen. Das ist der schwierige und langfristige Teil des Projektes.“

 

Wie erfolgreich war das Forschungsprojekt der Hochschule Offenburg bisher?

Professor Dr. Matthias Haun zeigt sich zufrieden mit dem bisherigen Projektstand: „Wir haben uns viel vorgenommen. Wir möchten nicht nur ein Produkt bzw. Leistungspaket schaffen, das für den Mittelstand umsetzbar ist, sondern wir möchten auch konkrete Projekte „auf die Straße“ bringen und erste Erfolge verzeichnen. Bisher stehen wir zwar noch am Anfang, aber wir sehen sehr optimistisch in die Zukunft. Erste Partnerunternehmen konnten wir bereits gewinnen. Wir glauben, dass unser Ansatz, der sehr komplex und schwierig zu vermitteln ist, dennoch für die Unternehmensbedürfnisse passt. Wir prüfen bei jedem Unternehmen sehr genau, ob Predictive Maintenance umsetzbar ist und in welcher Form. Nur wenn wir vom Erfolg überzeugt sind, setzen wir das Projekt entsprechend auf.“ 

Für viele Unternehmen im Mittelstand stehe Predictive Maintenance noch nicht sehr weit oben auf der Agenda. Da es sich um ein sehr umfassendes Thema handelt, das mit viel Aufwand verbunden ist und bei dem der ROI sich erst nach längerer Zeit zeige, seien viele Unternehmen noch sehr verhalten. „Es gibt bei Predictive Maintenance keine Abkürzung. Die Daten müssen sinnvoll systematisiert und strukturiert erhoben werden, um das System zu füttern.“ Und dieses System müsste erst einmal eine Weile arbeiten, bevor sich die ersten Ergebnisse zeigen, so die beiden Experten. Dennoch soll bis 2023 eine Lösung entwickelt sein, dass praxistauglich und gerade für KMU geeignet ist.

Das Ziel ist reizvoll – auch für Versicherungen

Trotz aller Hürden und Schwierigkeiten glaubt das Team der Hochschule Offenburg daran, dass Predictive Maintenance sich auch für den Mittelstand durchsetzen wird: „Das Ziel, das wir mit Predictive Maintenance anstreben, ist wichtig und richtig. Gerade bei älteren Industrieanlagen muss es darum gehen, Ausfallzeiten zu senken und konkurrenzfähig zu bleiben. Nicht nur die finanziellen Einsparungen sind enorm, auch die Produktionssicherheit steigt. Beides ist wesentlich für den finanziellen Erfolg der Industrieunternehmen.“

Auf die Frage, ob Predictive Maintenance auch ein Thema hinsichtlich Versicherungen sei, antwortet Professor Dr. Haun: „Wenn Betriebsunterbrechungen reduziert werden, können die Kosten für eine entsprechende Versicherung gesenkt werden. Das würde sich für Unternehmen und für Versicherer gleichermaßen lohnen.“

Industrie 4.0: Wie sieht die Zukunft aus?

Matthias Haun und David Gelantia sind sich sicher: „Die Digitalisierungsthemen stellen den Mittelstand vor große Herausforderungen.“ Fast immer seien sie mit einem Change-Prozess verbunden, fast immer gehe es um komplexe und grundlegende Veränderungen und Eingriffe in die bestehenden Abläufe. Andererseits werde der Handlungsbedarf täglich größer: „Es kommt nicht selten vor, dass wir technische Mitarbeiter aus der Rente zurückholen, um ihr Wissen in unser Projekt einfließen zu lassen. Es ist allerdings nicht immer einfach, jemanden zu motivieren, wieder zurück in den Betrieb zu kommen, um sein Know-how mit uns zu teilen. Und es ist auf Dauer keine Lösung.“ Daher werde der Druck, technisch neue Wege zu gehen, immer größer. „Dies gibt dem Thema Vorausschauende Instandhaltung, das ja gar nicht so neu ist, aktuell mehr Rückenwind.“

Predictive Maintenance (zu Deutsch: vorausschauende Instandhaltung) bezeichnet per Definition einen Wartungsvorgang, der auf der Auswertung von Prozess- und Maschinendaten basiert und findet sich vor allem im sprachlichen Kontext der Industrie 4.0.

Das Interview führte Sabine Haas

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