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„Trotz Digitalisierung: Expertenwissen bleibt gefragt“

Als Chefredakteur der „Zeitschrift für Versicherungswesen“ beobachtet Marc Surminski jeden Tag die Veränderungen der Branche. Im Interview spricht der Experte über die Grenzen der Digitalisierung und die Zukunft des Vertriebs.

 

Herr Surminski, die Digitalisierung hat die Versicherungswirtschaft stark verändert – und Corona wiederum hat den Druck erhöht, die Digitalisierung zu beschleunigen. Benutzen Kunden in ein paar Jahren nur noch Apps, um Versicherungen abzuschließen?
„Nur“ ist da das falsche Wort. Aber wir werden in Zukunft viele Apps benutzen und viele digitale Lösungen haben, um Versicherungen abzuschließen.

Wird es dabei große Unterschiede geben – je nach Versicherungsart?
Ja, auf jeden Fall. Vieles gibt es ja schon heute, das ist keine Zukunftsmusik mehr, bei ganz einfachen, situationsbezogenen Policen: Ich stehe am Skilift und brauche schnell eine Unfallversicherung. Die kann man schon über eine App abschließen. Manche Unternehmen arbeiten bereits mit Amazons Sprachassistenten Alexa zusammen. Darüber kann man einfache Versicherungen, zum Beispiel Tierkrankenversicherung oder Standardversicherungen für technische Geräte abschließen. Für sehr simple Policen funktioniert das also schon heute, und dies wird in Zukunft deutlich zunehmen. Das hat ein großes Zukunftspotenzial.

Und wo sind die Grenzen?
Je komplexer das Produkt wird, desto dünner wird die Luft. Die spannende Frage für die Zukunft wird sein: Was lässt sich tatsächlich automatisiert oder digitalisiert abbilden? Zum Beispiel über eine App im Vertrieb. Das ist nicht so einfach mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten. Sollten wir drüber nachdenken. Wir gehen jetzt von der Sichtweise der Versicherung aus… Wäre es möglich die Sichtweise der Kunden bei Next als Ausgangspunkt zu sehen?

Je komplexer eine Versicherung ist, desto mehr Beratungsbedarf hat der Kunde, oder?
Die nicht-komplexen Versicherungen sehe ich in Zukunft tatsächlich in den Bereich der digitalen Abschlüsse abwandern. Private Haftpflichtdeckungen etwa, auch Autoversicherungen. Bei Wohngebäuden wird es dann schon etwas spezieller, etwa bei der Ermittlung der Versicherungssumme. Dabei geht es ja bereits um existenzielle Risiken.

Wie schätzen Sie die Situation bei Lebensversicherungen ein?
Das wird interessant. Bei Risiko-Lebensversicherungen kann ich mir vorstellen, dass man die in Zukunft etwa per App abschließt. Bei der Altersvorsorge, mit all den steuerlichen Aspekten, den Themen Risiko und langfristige Sicherheit der Anlage, kann man das zwar heute auch schon digital machen. Aber die meisten Kunden haben keine Ahnung davon, die würden schon noch gerne einem fachlich versierten Berater in die Augen schauen, bevor sie ein Produkt abschließen.

Was bedeutet das für einen Versicherungsvertreter in Zukunft? Dass er sich stärker auf die komplexeren Produkte spezialisieren muss?
Ganz genau. Die Zeiten, wo man mit einem großen Sachbestand bequem leben konnte, die sind vorbei. Wenn man Altbestände hat, ist das gut, aber die werden bröckeln, mit dem Alter der Kunden. Das Zukunftsfeld für den Vertreter ist die hochqualifizierte, persönliche Beratung, zum Beispiel im Bereich Altersvorsorge und Pflege.

Also wird der Versicherungsvertreter in Zukunft nicht überflüssig?
Nein, er ist dort gefordert, wo man Expertenwissen braucht. Die meisten Leute suchen hier Orientierung und wollen mit einem Experten darüber sprechen. Das ist die große Chance für den persönlichen Vertrieb. Wobei man klar sagen muss, dass es weniger Vermittler geben wird. Der Schrumpfungsprozess ist stärker als wir uns das vorstellen konnten. Die IHK-Zahlen gehen deutlich zurück, und das wird sicherlich so weitergehen. Wir werden weniger Vermittler haben, und das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht.

Warum?
Weil wir in der Breite zu viele Vermittler haben. Es ist ein dicht besetzter Markt, und das erhöht den Druck, denn die Konkurrenz ist stark. Es haben sich in dieser Branche auch Leute getummelt, die schlecht qualifiziert waren, die das mit der guten Beratung nicht so genau genommen haben. Das ist deutlich besser geworden, nicht zuletzt durch die staatliche Regulierung. Dieser Prozess der Qualitäts-Konsolidierung wird weitergehen.

Was würden Sie jemanden raten, der jetzt in den Bereich Versicherungswirtschaft einsteigen will?
Das ist ja wie gesagt ein Bereich, der schrumpft. Im Vertrieb, aber auch im Innendienst sind die Zahlen rückläufig. Aber für qualifizierte, digitalaffine Leute im Innendienst, die nicht einfache Sachbearbeiter-Tätigkeiten machen, gibt es große Chancen. Und im Außendienst genauso: Kommunikationstalente, die auch digitale Kommunikation beherrschen, sind immer noch sehr gefragt in der Versicherungswirtschaft. Die Zeiten, wo unqualifizierte Quereinsteiger auf die Menschheit losgelassen werden, sind aber natürlich vorbei.

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung in der Versicherungsbranche? Kann man das mit dem Banksektor vergleichen?
Da gibt es bei allen Parallelen einen großen Unterschied: In der Versicherungswirtschaft haben sie einfach nicht so viel Kontakt zu den Kunden. Deren Policen laufen, und wenn alles gut geht und sie keinen Schaden haben, dann hören und sehen sie nichts vom Vermittler. Es gibt weniger Touch-points zum Kunden als bei den Banken. Das macht das Geschäft natürlich ein bisschen spröder.

Aber wenn etwas schief läuft, dann brauche ich einen persönlichen Kontakt ...
Das stimmt, und dann wird es heikel, wenn da ein Problem auftritt. Das gilt auch für technische Probleme. Dann muss jemand erreichbar sein. Da schlägt die große Stunde der persönlichen Betreuung.

Werden die Vergleichsportale den Wettbewerb in Zukunft weiter verschärfen?
Absolut, die sind da ein Beschleuniger. Das ist der Bereich, wo man in der Versicherungswirtschaft die Digitalisierung bislang am meisten merkt. Insurtechs, also Technologieunternehmen, die sich auf digitale Lösungen und Dienstleistungen im Bereich Versicherungswirtschaft spezialisiert haben, sind momentan eher nur schöne Experimente und vom Volumen her vollkommen irrelevant. Im Gegensatz zu den Vergleichsportalen wie etwa Check24. Die sind wirklich spürbar in der Branche. Der Druck auf die Vermittler ist hier schon richtig groß.

Es werden ja auch Versicherungsprodukte extra geschnürt, die bei diesen Rankings möglichst weit oben landen sollen ...
Ja, es wird geschaut: Was muss ich bieten, um ganz oben zu sein? Und da wird natürlich besonders auf das leidige Thema „Preis“ geschaut. Unternehmen bieten dann Top-Bedingungen zum Spitzenpreis. Wir wissen, dass das auf Dauer wirtschaftlich nicht durchzuhalten ist. Aber es wird immer wieder versucht. Dadurch geraten die Erträge weiter unter Druck, und das verschärft den Konkurrenzkampf.

Was muss eine Versicherung heute in Sachen Digitalisierung machen, damit es sie in zehn Jahren noch gibt?
Das ist die Eine-Milliarde-Euro-Frage. Alle Versicherungen investieren viel Geld, um diese Frage beantworten zu können. Ich denke, man sollte schauen, was die Konkurrenz macht. Damit meine ich nicht so sehr die anderen Versicherer, sondern diejenigen, die den Standard im digitalen Markt setzen: die Amazons und Googles dieser Welt. Da wird man zwar nie hinkommen, weil es ein ganz anderes Geschäftsmodell ist. Aber man muss schauen, was Amazon bietet: nämlich einen perfekten Verkaufsprozess. Und auch die Versicherer müssen versuchen, es den Kunden so einfach wie möglich zu machen. Das ist sehr wichtig. Ein Beispiel: Ein Freund fragte mich kürzlich nach einer Reisekrankenversicherung. Ich habe ihm einen großen Anbieter empfohlen, der auch gut in den Ratings ist. Er war anschließend extrem begeistert von dem Abschlussprozess. Er sagte: „Das war fast so einfach wie bei Amazon zu bestellen.“ Da muss man hin! Viele Versicherer können das noch nicht. Wenn es einem Unternehmen gelingt, zumindest in die Nähe eines Amazon-Kundenerlebnisses zu kommen, dann ist das schon sehr wertvoll.

Wie schätzen Sie in dieser Hinsicht die Entwicklungen bei ERGO ein?
Das Unternehmen hat zweifelsohne schwierige Zeiten hinter sich. Aber ich habe den Eindruck, dass die weitreichenden Umstrukturierungsmaßnahmen der letzten Jahre jetzt greifen. In der Lebensversicherung wird das Unternehmen etwa auf der Produktseite im Markt wieder als Angreifer wahrgenommen. Und mit der konsequenten Integration aller Vertriebswege – auch des Online-Direkt-Vertriebs – ist ERGO bei der Umsetzung der Digitalisierung der Branche sicherlich ein ganzes Stück voraus. Auch in den zukunftsträchtigen Bereichen Robotics, Voice und Nutzung von Smart Data sehe ich das Unternehmen in einer Vorreiterrolle.

Welche Veränderungen bringt die Corona-Krise?
Corona hat deutlich gemacht: Ein Unternehmen wie ERGO ist technisch mittlerweile so gut aufgestellt ist, dass alle Mitarbeiter kurzfristig im Homeoffice arbeiten konnten – bei gleichbleibender Servicequalität. Generell erwarte ich durch Corona eine erhebliche Beschleunigung der Digitalisierung. Was früher in der Umsetzung oft quälend lang dauerte, geht jetzt deutlich schneller. Und wir haben gesehen, dass die Kommunikation mit den Kunden ohne größere Probleme digital funktioniert. Wie sich Corona mittelfristig auf das Wachstum auswirkt, wird man natürlich abwarten müssen. Aber für die Digitalisierung hat die Krise sicherlich einen kräftigen Schub gebracht.

Interview: Helge Denker / Ingo Schenk

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