Sicherer Datenaustausch nach strengen europäischen Standards: Zertifizierte Teilnehmer am Projekt „GAIA-X“ sollen vor allem den großen US-amerikanischen und chinesischen Cloud-Anbietern Konkurrenz machen. //next stellt die Idee hinter der Europa-Cloud vor – und skizziert den aktuellen Entwicklungsstand.
Mitten in der Pandemie äußert Jörn Simon, Leiter der Landesvertretung Rheinland-Pfalz bei der Techniker Krankenkasse, einen kühnen Wunsch: „Mit einer einheitlichen digitalen Datengrundlage über alle EU-Länder hinweg könnten epidemiologische Bewegungen viel besser beobachtet, kritische Entwicklungen wie Fallzahlensteigerungen frühzeitig erkannt und politische Maßnahmen schneller und passgenauer beschlossen werden.“
Dieser Wunsch nach einem „European Health Data Space“ könnte bis 2025 Realität werden. Und zwar auf Basis einer deutsch-französischen Initiative: Bereits im Herbst 2019 stellte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier seine Vision „GAIA-X“ vor. Im Rahmen dieses Projekts soll eine europaweit vernetzte, offene Dateninfrastruktur aufgebaut werden, die Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung vernetzt – selbstverständlich auf Basis einheitlicher europäischer Sicherheits-, Datenschutz- und Transparenzstandards.
„Wir brauchen das Projekt aus drei wesentlichen Gründen“, heißt es beim Bundeswirtschaftsministerium:
Auf der entsprechenden Website von Peter Altmaiers Ministerium wird diese Vision anschaulich erklärt, unter anderem mit einem Video. Mitte 2020 gaben der Bundeswirtschaftsminister und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire dann auch noch ein Update über die damaligen Fortschritte des Projekts und präzisierten ihre Erwartungen an Europas künftige Cloud.
Und was sagt die Wirtschaft? „Bei GAIA-X handelt es sich um ein föderatives Konzept - dies schafft Raum für Selbstbestimmtheit“, sagt Andreas Weiss, Geschäftsbereichsleiter Digitale Geschäftsmodelle im eco Verband. Soll vor allem heißen: GAIA-X soll für mehr Unabhängigkeit von außer-europäischen Cloud-Anbietern sorgen – allen voran von Offerten wie Amazon AWS, Google Cloud, Microsoft Azure oder Alicloud. Zudem gilt es, künftig die Souveränität der Dateninhaber zu stärken, da sie dank GAIA-X jederzeit ohne erneutes Einloggen den Cloud-Anbieter wechseln könnten.
Nicht nur der Gesundheitssektor, auch die Industrie soll von einer leistungs- und wettbewerbsfähigen Dateninfrastruktur, die auf EU-weiten Standards basiert, profitieren. „In einer ökonomischen Entwicklung, die von verteilten Wertschöpfungsnetzwerken geprägt ist, gibt es eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit für Unternehmen, Daten zu teilen“, sagt Prof. Boris Otto vom Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST. Wer eine breitere Datenbasis nutzt, kann zum Beispiel die Produktentwicklungen effizienter gestalten, seine Liefer- und Produktionsprozesse optimieren oder KI-gestützte Qualitätskontrollen durchführen. Weitere Gründe, warum Unternehmen bei GAIA-X mitwirken sollten, nennt Boris Otto im unten verlinkten YouTube-Video.
Der BDI fordert zudem: „Bund, Länder und Kommunen müssen die Chance nutzen, mit Gaia-X die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung voranzutreiben“, so Iris Plöger, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung. Davon würden letztendlich nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Verbraucher profitieren.
Inzwischen beteiligten sich mehr als 350 Organisationen aus ganz Europa am Aufbau von GAIA-X. Darunter namhafte deutsche Unternehmen wie etwa SAP, die Deutsche Telekom, Bosch, Siemens und die Deutsche Bank oder Verbände wie der BDI, Bitkom und Trusted Cloud. Aber auch viele kleine und mittelgroße Unternehmen bauen an der föderierten Dateninfrastruktur mit. Und der Kreis der Interessenten wächst stetig.
Aufmerksamkeit erzielt GAIA-X in den letzten Monaten aber auch in Kreisen, die ursprünglich wohl nicht zur Zielgruppe gehörten. Zum Beispiel beim chinesische Elektronikkonzern Huawei, den die USA seit 2019 mit Sanktionen belegen. Und auch die viel beobachteten großen US-Clouds haben bereits ihren Willen zur Mitarbeit signalisiert. An solchen Offerten scheiden sich in Europa die Geister: Während einige IT-Experten befürchten, dass GAIA-X ohne diese „Hyperscaler“ niemals ein kritisches Volumen erreichen und am Ende mangels Datenmasse floppen könnte, halten es andere für fraglich, wie etwa US-amerikanische Unternehmen, die dem Patriot-Act unterliegen, die deutlich strengeren europäischen Datenschutzstandards überhaupt erfüllen könnten.
Unabhängig von diesem Dilemma kommt es in den folgenden Monaten vor allem auf eines an: „GAIA-X muss jetzt möglichst schnell mit echtem Mehrwert für Anwender an den Markt gebracht werden“, fordert zum Beispiel Bitkom-Präsident Achim Berg. Dies hat auch das Bundeswirtschaftsministerium erkannt und den GAIA-X-Förderwettbewerb ins Leben gerufen: Noch bis zum 7. Mai 2021 lassen sich Projektskizzen einreichen, deren Realisierung über die europäische Dateninfrastruktur möglich ist. Insgesamt rund 190 Millionen Euro werden sogenannten Leuchtturmprojekten aus allen Branchen zur Verfügung gestellt. Sie sollen sich vor allem mit innovativen intelligenten Anwendungen wie etwa Internet der Dinge (IoT), Big Data oder Künstliche Intelligenz beziehungsweise mit Datenräumen für neue Produkte, Geschäftsmodelle und Dienstleistungen beschäftigen – damit künftig Lieferketten noch schlanker und stabiler werden und gleichzeitig Verbraucher von individuelleren Angeboten profitieren. Über aktuelle Fortschritte informiert derweil der offizielle GAIA-X-Blog des Bundeswirtschaftsministeriums.
Text: Susanne Widrat
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