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Fördert Digitalisierung Inklusion?

Technologien verändern unsere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, auf Informationen zuzugreifen und sich in der Welt zurechtzufinden. Einerseits bilden neue soziale, ökonomische und technologische Barrieren den sogenannten Digital Divide, also die Kluft zwischen Menschen mit und ohne Zugang zu digitalen Technologien. Andererseits ermöglichen neue Technologien auch den Abbau von Barrieren.

Inklusion bedeutet, dass alle Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können. Nicht Einzelne müssen sich anpassen – die Gesellschaft soll sich allen Fähigkeiten und Voraussetzungen öffnen. So beschreibt es zum Beispiel die UN-Behindertenrechtskonvention. Inklusion ist also eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft – und dazu keine besonders kleine. Rund ein Zehntel der Menschen in Deutschland lebt mit einer schweren Behinderung. Darüber hinaus gibt es viele Einschränkungen, die in dieser Statistik nicht erfasst sind.

Um Inklusion zu schaffen, braucht es große, gesellschaftliche Lösungen, aber auch viele kleine, die die Voraussetzungen zur gesellschaftlichen Teilhabe ermöglichen. Mit Letzteren will ich mich in diesem Artikel beschäftigen. Dafür habe ich nach Technologien gesucht, die entweder Barrieren zum Zugang zu digitalen Angeboten senken oder durch digitale Lösungen in anderen Bereichen Barrieren verringern.

Abbau von Barrieren am digitalen Endgerät

Egal ob Computer, Smartphone oder Tablet: Um auf die weite Welt des Internets oder auf Programme zugreifen zu können, braucht man Eingabe- und Ausgabegeräte, die durch Software interpretiert werden müssen.

Computer für den Heimgebrauch gibt es seit rund 40 Jahren, dementsprechend gibt es auch schon lange viele Geräte, um mit ihnen zu interagieren – für unterschiedlichste Voraussetzungen. Tastaturen für Finger, für Füße und für mundgehaltene Stifte, winzige und riesige Tastaturen für unterschiedliche motorische Fähigkeiten, Joysticks mit Rollstuhlhalterung, Einhandtastaturen, Braille-Tastaturen, trennbare Kombigeräte – all diese Technologien bewähren sich.

Eine Mischung aus Software- und Hardware-Lösung ist die Augensteuerung, die durch den Physiker Stephen Hawking große Bekanntheit erlangte. Sie senkt auch für stark Mobilitätseingeschränkte die Barriere zum Computer wie auch zu den Menschen, die sie umgeben. Es gibt eine ganze Reihe von Technologien, die für verschiedene Bewegungsmöglichkeiten ausgelegt sind.

Softwareseitig bieten Fortschritte in der Spracherkennung große Erleichterungen. Das ist nicht zuletzt der Beliebtheit von Sprachassistenten zu verdanken. Seitdem Alexa und Google Assistant die Wohnzimmer erobern, ist das Interesse an Spracherkennung groß. Für viele Menschen ist das einfach bequem, für manche aber auch ein enormer Barriereabbau.

Die Ausgabe von Computern lässt sich ebenfalls auf unterschiedliche Weise umsetzen. Mit Apps lassen sich Bildschirmausschnitte vergrößern und Kontraste verstärken. Mit Screenreadern kann man sich durch Programme und durch das Web navigieren, auch wenn man eine Sehbeeinträchtigung hat.

Mit digitalen Lösungen die Umwelt wahrnehmen

Bücher, Dokumente, Formulare – vieles gibt es inzwischen digital. E-Books sind nicht nur platz- und ressourcenschonend, sie sind auch gut von Screenreadern lesbar. Doch was ist mit nicht digitalisierten Büchern oder Dokumenten? Auch für diese gibt es Texterkennung. Mit speziellen Scannern oder kleinen Handgeräten, die wie ein Textmarker aussehen, kann man sich Texte direkt vom Blatt Papier als Sprache ausgeben lassen.

Noch weiter gehen Programme wie Seeing AI, die Objekte und Texte oder sogar Personen erkennen und den Nutzerinnen und Nutzern direkt beschreiben können. Die App erzählt, was gerade zu sehen ist, wo sich der Gegenstand oder Mensch im Kamerafeld gerade befindet und wie weit diese in etwa weg sind. Bei Personen kann Seeing AI zudem Emotionen beschreiben, erkennt Geld genau wie Produktcodes. Das Programm vereint also eine Reihe von Funktionen, die es teilweise schon länger als Einzelgeräte oder -software gibt. Produktscanner, Entfernungsmesser, Farberkenner und wie bereits beschrieben Textlesegeräte sind für viele Menschen große Hilfen im Alltag.

Auch Lupenbrillen können durch moderne Technologie zu smarten Alltagshelfern werden. Die Brille NuEyes Pro hat eine Kamera auf der Vorderseite und vergrößert das Aufgenommene um das bis zu Zwölffache, sie kann unter anderem Texte vorlesen und Produkte scannen.

Für Menschen mit Höreinschränkungen gibt es Dolmetscher-Apps, die sie direkt mit Gebärdendolmetscher:innen verbinden. Für Behördengänge, für medizinische Beratungen oder andere wichtige Gespräche ist das eine einfache Lösung für eine unablässige Unterstützung.


Vernetzung für alle: Inklusives Design in der Mobilität

Die meisten der bisher vorgestellten Technologien sind für spezielle Anwendungen entwickelt worden. Sie sollen Menschen mit bestimmten Einschränkungen die Nutzung von Technologien ermöglichen. Eine neue Generation von Apps ist jedoch von Vornherein dafür ausgelegt, möglichst alle Nutzungsvoraussetzungen abzudecken. Sie folgen damit einem Ansatz, der sich inklusives Design nennt.

Inklusives Design wird in vielen Bereichen eingesetzt, in Sachen Mobilität erreicht es bereits die alltägliche Nutzung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass laut Personenbeförderungsgesetz der gesamte Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ab dem 2022 barrierefrei sein muss.

Die Deutsche Bahn (DB) hat ihre App „DB Bahnhof live“ mittlerweile zu einem sehr vielseitigen Informationsangebot ausgebaut. Neben Live-Abfahrten und -Ankünften bietet sie Umgebungspläne, Informationen zu barrierefreien Zugängen und Dienstleistungen sowie eine Anzeige des aktuellen und durchschnittlichen Menschenaufkommen. Die Informationen sind ausführlich und – soweit ich das bei meinem kurzen Test feststellen konnte – tatsächlich aktuell. Es wird sogar angezeigt, ob Aufzüge in Betrieb sind oder nicht. Informationen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind hier nicht als Extra aufgeführt, sondern fügen sich in das Angebot für alle ein.

Die App der Dortmunder Firma Ivanto geht über die reine Informationsfunktion vieler anderer Mobilitätsanwendungen hinaus: Durch die App und Hardwaremodule, die an Haltestellen und Fahrzeugen installiert werden, ermöglicht sie eine direkte Kommunikation mit der Umwelt. Durch ein Bluetooth-Modul am Fahrzeug kann die App ansagen, wenn sich der gewünschte Bus nähert und dann von außen einen Haltewunsch auslösen. Wenn spezielle Radarmodule an den Haltestellen installiert sind, kann sie auch nahende Fahrräder erkennen und vor diesen warnen. Im Fahrzeug sagt oder zeigt sie auf Wunsch die Haltestellen an oder schickt eine Benachrichtigung, wenn die gewünschte Haltestelle bevorsteht. Neben diesen Assistenzleistungen bietet die Ivanto-App eine Wegführung von Tür zu Tür, ein automatisches Ticketingsystem beim Betreten und Verlassen des Fahrzeugs, Abfahrtsmonitore, ein Navigationssystem für Fußgängerinnen  und Fußgänger (mit Sprachhinweisen und Leithilfen für Menschen mit Sehbehinderung). Sie zielt also darauf, eine allumfassende Hilfe zur Mobilität zu sein.

Die Vernetzung von digitalem Endgerät und digital angereicherter Umwelt bietet dem Abbau von Barrieren viele Chancen. Die App Mindtags nutzt Bluetooth und NFC-Chips, um Menschen in Gebäuden genau orten zu können und sie zum Beispiel zu einem bestimmten Raum oder einem bestimmten Geschäft zu leiten. Das ist von Vorteil für Menschen mit Sehbehinderung und für Menschen, die sich in einem großen Gebäude schlicht nicht auskennen. Die App eröffnet zudem die Möglichkeit, NFC-Chips auf Gegenstände zu kleben und Informationen einzuspielen. Das kann in Ausstellungen Erklärungen oder Zusatzinfos beinhalten und zuhause die Suche nach dem richtigen Medikament, einem bestimmten Buch oder Werkzeug erleichtern.

Vernetzung ist für alle da

Digitalisierung schafft nicht automatisch Inklusion. Barrierearme Technologien müssen genauso entwickelt werden wie andere auch. In vielen Bereichen der Gesellschaft mangelt es noch an Lösungen, um auch Menschen mit Einschränkungen den Zugang zu ermöglichen. Die Vielzahl der bereits vorhandenen Mittel zu einem selbstbestimmten Leben für alle und vor allem der Trend zu inklusivem Denken in der Entwicklung neuer Technologien lässt jedoch hoffen, dass Digitalisierung mehr Lösungen als Barrieren zu bieten hat.

Text: Nils Bühler

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