Museen, Archive, Bibliotheken oder auch Mediatheken: Sie alle verfügen über kulturelle Güter bzw. Sammlungen von unschätzbarem Wert. Diese für die Nachwelt zu bewahren, ist inzwischen zur Aufgabe zahlreicher Projekte und Einrichtungen geworden. Digital zugänglich gemachtes Kulturerbe kann so ortsungebunden, barrierearm und vielschichtig erfahrbar werden. Für die Gedächtniseinrichtungen eröffnet sich damit die Möglichkeit, international sichtbarer zu werden und ganz neue Verbindungen zu schaffen – nicht nur innerhalb der unterschiedlichen Kulturbereiche, sondern auch zur Wissenschaft.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Nachmittag vom 3. März 2009, als die Sirenen der Einsatzfahrzeuge nicht enden wollend entlang der Inneren Kanalstraße in Köln rauschten. Schnell wurde klar: Das Stadtarchiv war eingestürzt. Neben der menschlichen Tragöde und dem Verlust, den der Tag für die beiden Opfer dieses Ereignisses und ihre Familien bedeutete, war Köln plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass die archivierten Zeugnisse seiner langen Geschichte voraussichtlich auf ewig vergangen sein könnten. Heute weiß man: Etwa 30 Regalkilometer Archivgut wurden binnen weniger Sekunden unter dem eingestürzten Gebäude vergraben. Derzeit geht man davon aus, dass die Wiederherstellung für die geretteten Güter weitere 30 Jahre in Anspruch nehmen wird.
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie wichtig und sinnvoll es ist, digitale Technik zur Wahrung unserer Kulturgüter einzusetzen. Damit lassen sich physische Gegenstände selbst zwar nicht retten, sollten sie einer kompletten Zerstörung ausgesetzt sein. Indem sie aber möglichst vollständig digital erfasst werden, geht zumindest das Wissen um sie und ihre Gestaltung nicht verloren. Die Erkenntnis hierzu ist keineswegs neu, die Technik selbst auch nicht. Häufiger fehlt es jedoch an der notwendigen Kompetenz oder auch personellen wie finanziellen Ressourcen innerhalb der Institutionen, um die umfangreiche Digitalisierung von Gegenständen mit kulturellem Wert – sei es nun intern oder durch externe Dienstleister – zu realisieren.
Den Anfang machte 1997 die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit der Digitalisierung von Buchbeständen. Inzwischen werden neben Büchern und Zeit- oder Handschriften auch Karten, Bilder, Exponate, Film- und Tondokumente oder sogar Skulpturen digital kuratiert. Diese Abbilder können mit Meta- und weiteren Daten angereichert und so ausgelesen werden, dass sie im Digitalen einen erweiterten Aktions- oder Funktionsmodus erhalten. In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel, dass textbasierte Digitalisate für die maschinelle Volltextsuche zugänglich werden oder für die in 3-D nachempfundene Skulptur inklusive zugehörigen Metadaten zum verwendeten Material eine Replik angefertigt werden kann – weil beispielsweise das Original für eine Ausstellung zu fragil oder lichtempfindlich ist.
Während die Digitalisierung von Kulturgütern zu Beginn noch bedeutete, Dokumente einzuscannen und diese digital abzulegen, reichen die Möglichkeiten und Methoden inzwischen viel weiter. Neben diversen Scanner-Techniken kommen Digitalkameras, Drohnen, GSP-gesteuerte Systeme wie auch KI zum Einsatz.
Die Erstellung von sogenannten Digitalisaten dient aber keineswegs ausschließlich der Wahrung vor einer möglichen Zerstörung des Originals. Tatsächlich gibt es viele weitere Aspekte, digitale Abbilder anzulegen.
Einer ist die digitale Präsentation von Gegenständen, für die es gar keinen passenden physischen Raum gibt. Auch lassen sich mittels Digitalisaten virtuelle Ausstellungen realisieren, deren thematisch miteinander in Beziehung gebrachte Exponate in der realen Welt niemals gemeinsam an einem Ort ausgestellt werden könnten. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten und Chancen der Vermittlung.
Die digitalen Zwillinge können überdies dabei helfen, auf gestohlene Kulturgüter aufmerksam zu werden. Mit einer vom Fraunhofer Institut entwickelten App etwa sollen Ermittlungsbehörden und Zoll zukünftig erkennen können, ob es sich bei archäologischen Objekten möglicherweise um Diebesgut handelt. Die Handhabung ist recht einfach: Das jeweilige Objekt wird mit dem Smartphone aus mehreren Perspektiven heraus fotografiert und die Bilder anschließend per KI-Verfahren mit den Digitalisaten in einer Datenbank abgeglichen. Die App namens KIKu liefert dann umgehend weitere Informationen über das jeweilige Objekt und sendet einen Hinweis, sollte das Kulturgut als gestohlen gemeldet sein. Auch für einen Versicherer ein interessanter Aspekt.
Erweiterte und umfängliche Informationen zu einem Kulturgut online bereitzustellen, bedeutet aber auch, Objekte außerhalb der gewohnten Perspektive zu präsentieren, in neue Zusammenhänge zu bringen, neuartige Kunsterlebnisse zu kreieren, die bestenfalls Menschen wieder stärker in Kulturstätten bringen. Ein schönes Beispiel für Letzteres veranschaulicht das immersive Ausstellungserlebnis „Monets Garten“, das noch bis zum 18. August 2022 an drei verschiedenen Standorten erfahrbar ist.
Eines der bekanntesten Beispiele, wie Digitalisate online zu thematisch virtuellen Ausstellungen genutzt werden können, zeigt die Webanwendung Google Arts & Culture, die auch als App zur Verfügung steht. Ziel ist es, hier mittels einer neuartigen Verbindung von Kunst im virtuellen Raum auch ein neues Verständnis für die Welt und die Menschen anderer Länder zu schaffen. Sehen, lernen und entdecken lautet das Leitbild der Plattform, auf der alles in 360-Grad oder durch Zoom-In erfahrbar wird. Die digitale Reise in die Welt der Kunst kann per Stichworteingabe, Zeitleiste oder sogar Farbauswahl gestaltet werden. Im Anschluss lassen sich – ganz im Sinne moderner digitaler Kommunikation – die persönlichen Fundstücke auch gleich mittels implementierter Share-Funktion mit der Welt teilen. Bekannte deutsche Einrichtungen, die hier mit Sammlungen vertreten sind: die Staatlichen Museen zu Berlin. Tausende Objekte, viele Ausstellungen sowie Kurzgeschichten, Virtual-Reality-Touren, Expeditionen, Gigapixel oder auch Streetviews zu den jeweiligen Stätten mit ihren Dauerausstellungen werden dort auf einer eigenen Portalseite präsentiert.
Eigene virtuelle Ausstellungen mit digitalisierten Exponaten aus ihren Sammlungen hat auch die Deutsche Nationalbibliothek realisiert – unter dem digitalen Dach des kooperativen Projekts Deutsche Digitale Bibliothek (DDB). Dies soll jedem einen umfassenden Zugang zum kulturellen und wissenschaftlichen Erbe Deutschlands ermöglichen. Nach eigenen Angaben sind bereits heute „Millionen von Objekten aus allen Kultursparten und allen Gattungen über die Suchfunktion der DDB kostenfrei recherchierbar“. Weitere durch die DBB unterstütze Projekte sind das 2021 freigeschaltete Deutsche Zeitungsportal mit Zeitzeugnissen aus den Jahren 1671 bis 1950 sowie das Archivportal D mit Informationen über 220 Archive aus ganz Deutschland und mehr als 25 Millionen Objekten.
Ein Beispiel für die konsequente Sammlung und Veröffentlichung von digitalisierten Kulturgütern auf Bundesland-Ebene bietet das 2021 gelaunchte digitale Landesarchiv APERTUS: Hier können die schriftlichen Kulturgüter von Rheinland-Pfalz seither weltweit im Netz abgerufen werden.
Auf europäischer Ebene und von der EU initiiert agiert Europeana. Mehr als 3.000 Kulturinstitutionen haben sich bislang daran beteiligt. Welche Objekte digitalisiert und dort gezeigt werden, entscheiden die Institutionen allerdings selbst. Auch werden die Digitalisate dort nicht gespeichert, sondern verbleiben auf in den Netzwerken der Einrichtungen. Es handelt sich also lediglich um eine digitale Präsentationsplattform mit den bereitgestellten Kontextinformationen nach einem niedrigschwelligen Metadatenstandard und einem kleinen Foto. Den eigenen Anspruch an die Plattform beschreibt die EU wie folgt: „Wir entwickeln Fachwissen, Tools und Richtlinien, um den digitalen Wandel zu nutzen und Partnerschaften zu fördern, die Innovationen fördern.“ So finden sich auf der Startseite auch Projekte zum Mitmachen.
Die Schaffung digitaler Kulturgüter hilft dabei, kulturelle Artefakte in einen ganz neuen Zusammenhang zu bringen und damit auch interdisziplinäre Verbindungen zu schaffen. Damit dies gelingt, ist eines jedoch Voraussetzung: eine offene und freie Datenzugangslage. Im Falle des eingangs erwähnten Kölner Stadtarchivs ist es zum Beispiel so, dass manche Digitalisate aus dem digitalen Historischen Archiv Köln online nicht mehr angeschaut werden können. Die Begründung: „Zum 01.03.2018 ist das urheber-Wissensgesellschaftsgesetz (UrhWissG) in Kraft getreten. [….] Die in § 61f neu eingefügten Schranken der Urheberrechtes für Archive erlauben es nicht, unveröffentlichte Werke, für die das nutzende Archiv keine Nutzungsrechte erworben hat, online zu stellen oder digital zu übermitteln. Da gleichzeitig die Gerichte schon bei einer geringen ,Schöpfungshöhe‘ entsprechende Werke von der Existenz von Urheberrechten ausgehen, müssten alle Akten des Archivs, in denen entsprechende urheberrechtliche Werke vorliegen könnten, vor einer Veröffentlichung über das Internet vollständig gesichtet werden. Dies kann mit dem vorhandenen Personal nicht geleistet werden.“
Ein weiterer Punkt beim Thema Digitalisate, dem mehr Aufmerksamkeit zukommen sollte: Digital abgelegte Kulturschätze leeren zwar Regale, aber der technische Fortschritt und sich ständig verändernde elektronische Standards könnten wiederum zum Verlust der digitalen Abbilder führen. Wer weiß schon, ob die Datenträger von gestern morgen tatsächlich noch auslesbar sein werden. An diesem Punkt fehlt es schlichtweg noch an belastbaren Erfahrungen.
Zudem sollte im Rahmen von Standards vermehrt sichergestellt werden, dass die Flut an Informationen zu den Digitalisaten immer auch so strukturiert und aufbewahrt wird, dass sie nicht irgendwann in der Masse untergehen. Nachhaltigkeit wird perspektivisch damit zu einer großen Herausforderung für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie von kulturellem Gut.
Und obgleich die Digitalisierung dabei hilft, besonders schützenswerte Kulturgüter „verfügbar“ zu halten, damit diese nicht ungewollt beschädigt oder zerstört werden können, muss zugleich klar sein, dass diese Digitalisate niemals die Aufbewahrung der Originale ersetzen sollte.
Digital bereitgestelltes Kulturgut erreicht somit vor allem eines: Es wird dauerhaft einem größeren Publikum zugänglich gemacht und unterstützt damit die kulturelle Teilhabe für alle. Die Digitalisierung von Kulturgütern sollte aus meiner Sicht deshalb in ihren Grundzügen als öffentlich getragene Aufgabe angesehen werden. Warum dieser Ansatz wichtig, zeigt auf erschreckende Weise die aktuelle Situation in der Ukraine, wo nicht nur Menschenleben und Infrastrukturen zerstört und vernichtet werden. Auch das kulturelle Erbe fällt den Auseinandersetzungen zusehends zum Opfer, während eine Gruppe von rund 1.300 Fachleuten versucht, gefährdete Websites, digitale Inhalte und Daten in ukrainischen Kultureinrichtungen zu identifizieren und zu archivieren. Leider bieten auch Digitalisate keine Bewahrungsgarantie.
Text: Alexa Brandt
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