Digital Health

Neue Medikamente durch den Einsatz von KI?

In Zeiten, in denen es immer schwieriger wird, neue Medikamente zu entdecken, macht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) auch in diesem Bereich Hoffnung. Durch die Analyse von großen Datenmengen und die Entwicklung von Vorhersagemodellen kann KI den Forschungs- und Entwicklungsprozess von neuen Arzneimitteln erheblich beschleunigen. Wir beleuchten, warum das Krebspatienten helfen könnte und welche weiteren Chancen, aber auch Risiken sich ergeben.

KI bei der Arzneimittelherstellung

Wer nach sechs Wochen Sommerferien ein verschimmeltes Pausenbrot in der Schultasche des Kindes entdeckt, dürfte sich über dieses Missgeschick zumindest kurz ärgern. Man könnte es aber auch einmal anders betrachten: In der Wissenschaft haben ähnliche „Pannen“ schon zu erstaunlichen Entdeckungen geführt. Auch der schottische Mediziner und Bakteriologe Alexander Fleming fand Penicillin durch einen Zufall. Als er im September 1928 während seines Sommerurlaubs eine seiner Bakterienproben versehentlich im Labor stehen ließ, wuchsen auf einigen Schimmelpilze. Diese hatten Stoffe gebildet, durch die die Bakterien – in diesem Fall Staphylokokken – abgetötet wurden. Das erste Antibiotikum war entdeckt.

Entdeckung neuer Wirkstoffe wird immer schwieriger

Solche zufälligen Entdeckungen von Medikamenten gibt es heute kaum noch. Es wird immer schwieriger und teurer, neue Arzneimittelwirkstoffe zu finden. Einen neuen Wirkstoff auf den Markt zu bringen, kostet laut einer Studie rund 2,6 Milliarden US-Dollar. Und bevor neue Wirkstoffe in Medikamenten zum Einsatz kommen dürfen, müssen diese aufwendig und ausreichend klinisch getestet sein.

Der Bedarf an neuen Medikamenten ist aber da, weil aufgrund der wachsenden Weltbevölkerung das Risiko steigt, dass sich neue Krankheitserreger verbreiten. Die Corona-Pandemie hat dies deutlich gezeigt. Doch nicht nur Viren, sondern auch bestimmte Bakterien und Keime stellen eine zunehmende Gefahr dar: Die Zahl der Infektionen und Todesfälle durch Antibiotika-Resistenzen ist deutlich gestiegen, wie das „Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten“ (engl. kurz ECDC) im Auftrag für die Europäische Union feststellte. Laut Schätzungen sterben demnach allein im Europäischen Wirtschaftsraum durchschnittlich 35.000 Menschen pro Jahr an den Folgen von Infektionen mit Antibiotika-resistenten Bakterien. 

Wie kann man Künstliche Intelligenz in der Arzneimittelforschung einsetzen?

Um beispielsweise gezielt Medikamente gegen resistente Bakterien zu entdecken, ist es wichtig, neue synthetische Wirkstoffe zu finden. Um neue Wirkstoffkandidaten zu entwickeln, muss man Schätzungen zufolge eine Dezillion Moleküle testen. Eine Dezillion ist eine eins mit 60 Nullen, was einem sehr großen Datensatz entspricht. KI und maschinelles Lernen können helfen, diesen und damit die Moleküle schneller zu untersuchen. Das Pharmaunternehmen Merck nennt unter anderem zwei Vorteile dieses Verfahrens:

  • Predictive Analytics: Vorhersage der Eigenschaften einer Substanz

    Durch Einsatz von KI ist es möglich, die Eigenschaften einer Substanz vorherzusagen. Das bedeutet, dass nur Moleküle mit den gewünschten Eigenschaften für die Synthese ausgewählt werden. Synthese bezeichnet in der Chemie den Vorgang, bei dem aus Elementen eine Verbindung oder aus einfachen Verbindungen ein komplizierter neuer Stoff hergestellt wird. Merck hat nach eigenen Angaben etwa 300 solcher KI-Vorhersagemodelle für die Eigenschaften von Substanzen bereits entwickelt.

    Vorteil:
    Durch Vorhersagemodelle lassen sich Zeit und Geld sparen, weil Forschende erst gar nicht an Substanzen arbeiten, die keine Wirkung haben.
  • KI-Molekül-Design: Ideen für komplett neue Substanzen

    KI kann auch eingesetzt werden, um neue Moleküle mit den gewünschten Eigenschaften zu „erfinden“ – das kann zum Beispiel ein Molekül sein, welches ein Protein, das an einem Krankheitsbild beteiligt ist, bindet und so unschädlich macht.

    Vorteil:
    Bisher konnten Wirkstoffkandidaten nur durch klinische Studien ermittelt werden. Das Problem dabei ist aber: Nur 10 Prozent der Wirkstoffkandidaten schaffen es nach Phase-1-Studien, also kleinen Studien an gesunden Freiwilligen, überhaupt auf den Markt. Das bedeutet: 90 Prozent der neuen Wirkstoffe werden aufwendig klinisch getestet, kommen nach der Testphase aber dann nie zum Einsatz. Diese nicht passenden Wirkstoffe können durch eine KI und maschinelles Lernen von vornherein ausgeschlossen werden und so die Entwicklung wirksamer neuer Medikamente beschleunigen.
     

In welchen Bereichen der Medikamenten-Entwicklung kann KI zum Einsatz kommen?

Künstliche Intelligenz könnte perspektivisch in vielen Bereichen der Entwicklung neuer Medikamente eingesetzt werden. Zwei interessante Beispiele aus der aktuellen Forschung haben wir herausgesucht.

  1. Antibiotika-Resistente Keime (Quelle: MIT)

    Forschende des Massachusetts Instituts of Technology (MIT) und der McMaster Universität in Kanada haben mit einem KI-Algorithmus ein neues Antibiotikum gegen Krankenhauskeime entdeckt. Das Bakterium „Acinetobacter baumannii“ kommt häufig in Krankenhäusern vor. Wer sich damit infiziert, kann beispielsweise eine Lungenentzündung, Hirnhautentzündung oder andere schwere Infektion bekommen. Das Problem bei Krankenhauskeimen: Sie können lange auf Oberflächen wie Türklinken überleben und sind oft resistent gegen alle bestehenden Antibiotika.

    Die Forschenden haben das neue Medikament aus einer Datenbank mit fast 7.000 potenziellen Arzneimittelwirkstoffen ermittelt. Dafür hatten sie ein maschinelles Lernmodell darauf trainiert, zu bewerten, ob eine chemische Verbindung das Wachstum des Krankenhauskeims hemmt. Bisher wurde das Antibiotikum allerdings nur in Tierversuchen an Mäusen getestet. Klinische Studien mit Menschen werden zeigen, ob es auf den Markt kommt.
  2. Medikamente zur Behandlung von Krebserkrankungen

    Im Bereich der Krebsmedikamente zählt das Pharma-Tech-Unternehmen Exscientia zu den Pionieren auf dem Gebiet: In einer Studie mit der Universität Wien hat die britische Firma verschiedene potenzielle Krebsmedikamente an einem Leukämie-Patienten getestet. Sie untersuchten Dutzende „Medikamenten-Cocktails“ gleichzeitig an Gewebeproben des Patienten und werteten diese mit Hilfe von Bots und maschinellen Lernmodellen aus. So konnten sie ein Medikament identifizieren, durch das der Krebs zwei Jahre nach Start der Behandlung verschwunden war. Allerdings bleibt abzuwarten, ob das vielversprechende Medikament auch klinische Studien erfolgreich durchläuft. Deren Ergebnis steht noch aus. KI kann auch in der Entwicklung eines mRNA-Impfstoffs, der Krebs bekämpfen soll, eingesetzt werden. mRNA-Impfstoffe sind vielen von uns seit der Corona-Pandemie bekannt, die Technik könnte künftig auch in der Krebstherapie eingesetzt werden. Das US-Unternehmen Moderna und der Mainzer Pharmahersteller Biontech forschen beide auf dem Gebiet. Biontech hat Ende Juli 2023 die Übernahme des britischen KI-Unternehmens InstaDeep abgeschlossen, um die KI-gesteuerte Arzneimittelforschung im eigenen Haus auszubauen.
     

Welche Risiken gibt es beim Einsatz von KI in der Medikamenten-Herstellung?

Wenn Künstliche Intelligenz praktisch jede erdenkliche chemische Verbindung finden kann, dann ist es naheliegend, dass diese Technik auch dafür genutzt werden könnte, potenziell gefährliche Stoffe herzustellen. Eine Gruppe von Forschenden zeigte in einer Studie, dass eine KI, die Medikamente entwickelt, weniger als sechs Stunden brauchte, um 40.000 potenziell tödliche Moleküle zu erfinden. Sie versetzten die KI, die normalerweise für die Suche nach hilfreichen Medikamenten eingesetzt wird, in eine Art „Bösewicht“-Modus, um zu zeigen, wie leicht sie zur Herstellung von biochemischen Waffen missbraucht werden könnte. Die KI fand Zehntausende neuer Substanzen, von denen einige dem VX, dem stärksten jemals entwickelten Nervenkampfstoff, ähnlich sind.

Einsatz von KI macht Hoffnung, aber Warnung vor verfrühtem Hype

In Anbetracht der Schwierigkeit, neue Arzneimittelwirkstoffe zu finden, ist der Einsatz von KI sicherlich eine Chance, um etwa Impfstoffe gegen Krebs oder neue antibiotische Wirkstoffe gegen Krankenhauskeime zu finden. Es macht Hoffnung, dass es derzeit so viel Forschung auf dem Gebiet gibt. Gleichzeitig warnen Wissenschaftler aber auch vor einem verfrühten Hype, da einige mögliche Wirkstoffe bislang erst in Tierversuchen getestet wurden oder erst Phase 1 einer klinischen Studie durchlaufen haben. Um auf dem deutschen Markt zugelassen zu werden, müssen Arzneimittel drei klinische Testphasen erfolgreich durchlaufen haben. Außerdem gilt es in jedem Fall auszuschließen, dass so eine KI in falsche Hände gerät, damit aus einer Chance für die Menschheit keine Gefahr wird. 

Most Popular