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Data & AI: So wird schwache KI immer stärker

Das aktuelle „Tech Trend Radar“ von ERGO und Munich Re umfasst 44 Trends in fünf Themenfeldern, die wir uns hier auf //next in einer Serie genauer ansehen. Den Anfang haben unsere ausführlichen Analysen zu „Wellbeing“ und zu „Hyperconnectivity” gemacht, nun wenden wir uns „Data & AI“ zu: Was hat es mit diesem Trendfeld auf sich – und welche einzelnen Trends verbergen sich dahinter?

Tech Trend Radar, Themenbereich Hyperconnectivity

Das „Tech Trends Radar 2022“ („TTR2022“) definiert das Trendfeld „Data & AI“ als „Heimat für datengetriebene Technologien und Unternehmenslösungen auf Basis von künstlicher Intelligenz“ (KI, Englisch: AI). Zu den Schlüsselanwendungen in diesem Bereich zählen beispielsweise

  • „Computer Vision“ (Maschinen lernen Bilder zu interpretieren) sowie
  • „Natural Language Processing“ (NLP), mit deren Hilfe Maschinen menschliche Sprache verstehen und selber einsetzen – etwa in Form von PhoneBots, wie sie auch bei ERGO zum Einsatz kommen.
  • „Machine Learning“ wiederum befähigt zur selbstständigen Entscheidungsfindung, während die „TTR2022“-Macher unter
  • „Reinforcement Learning“ und „Knowledge Graphs“ wichtige Prinzipien verstehen, die Maschinen dabei helfen, künstlich intelligent zu werden.
     

KI macht enorme Fortschritte …

Doch was hat sich im diesem komplexen Bereich 2022 bahnbrechend Neues getan? Da wäre an erster Stelle „Multimodale KI“ zu nennen – ein großer Schritt vorwärts auf dem Weg, KI-berechnete Ergebnisse immer genauer zu machen. Für Daniel Grothues von ERGO wiederum,  einen der beiden Projektleiter hinter dem diesjährigen Radar, zählt „KI-Demokratisierung“ zu den bedeutendsten Meilensteinen der jüngeren KI-Geschichte: „Im Grunde handelt es sich hierbei um einen neuen Begriff für ‚erklärbare KI‘ – also die Möglichkeit, KI insgesamt zugänglicher und noch viel breiter nutzbar zu machen (siehe unten).“ Ein ausführliches Interview mit den beiden Projektleitern des „TTR2022“ zu dessen Entstehung sowie zu den in ihren Augen wichtigsten Trends lest Ihr hier.

… und bleibt doch von wirklicher Intelligenz noch weit entfernt!


Bei allen Fortschritten, die es Bereich „Data & AI“ zuletzt gab und permanent gibt, ist es den beiden Experten jedoch wichtig klarzustellen: Bis künstliche Intelligenz – in diesem Fall wäre es dann laut „TTR2022“-Definition eine „künstliche allgemeine Intelligenz“ (AGI, siehe unten) – es eines fernen Tages auf breiter Ebene mit dem Menschen aufnehmen kann, wird es noch sehr lange dauern. Wir reden hier von Jahrzehnten, falls es überhaupt jemals so weit kommt. Zu dieser Einschätzung kommt auch Mark Klein hier auf //next: Selbst ein vierjähriges Kind sei auch der artifiziellsten künstlichen Intelligenz „noch immer weit überlegen“, schrieb der ERGO CDO bereits 2020. Weswegen man bei der aktuell noch vorherrschenden, maschinellen Intelligenz von „schwacher“ KI spreche, die auf eng umgrenzte Aufgaben trainiert wurde – im Gegensatz zu starker KI, die menschliche Intelligenz tatsächlich nachbilde. „Letzteres ist noch Zukunftsmusik – ganz klar!“


Welcher Trend hat welchen Reifegrad?

Details zu den zwölf Trends im Trendfeld „Data & AI“ findet Ihr weiter unten, doch zunächst sei daran erinnert: Die Studie unterteilen alle Trends in die vier unterschiedlichen Reifegrade:

  • hold („auf die Beobachtungsliste setzen")
  • assess („überlegt, was dies für Euer Unternehmen bedeuten könnte")
  • trial („erste Initiativen sollten in den am stärksten betroffenen Geschäftsbereichen gestartet werden")
  • adopt („nutzt beherzt die Vorteile dieser Technologie!")

Doch welche Empfehlung gilt nun für was?

Fünfmal „adopt“…

Beherzt umsetzen sollten Versicherer laut „Tech Trend Radar 2022“ die folgenden fünf Trends:

  1. Computer Vision: Wie eingangs skizziert, umfasst dieser Trends die unterschiedlichsten Methoden zur Erfassung, Verarbeitung, Analyse und Interpretation digitaler Bilder. Er gilt somit als einer der wichtigsten Treiber von Anwendungen, die visuelle Daten von Sensoren benötigen – seien es Roboter, Drohnen oder Geräte im Internet der Dinge (IoT). Klassisches Beispiel sind etwa KI-gesteuerte Fahrzeuge, die durch ihre Umgebung navigieren, indem sie die Aufnahmen ihrer Bildsensoren immer besser interpretieren. Aber auch Branchen wie der Einzelhandel profitieren, indem sie ihren Kunden während des Einkaufs automatisch Produktvorschläge unterbreiten – basierend auf Bildern von Artikeln, die diese bereits in den Einkaufswagen gelegt haben.
  2. Digital Twin: Zwillinge gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Dies gilt auch für so genannte digitale Zwillinge: virtuelle Abbildungen von realen Gegenständen. Warum diese Stellvertreter im Industrie- und Fertigungsbereich oder auch bei der Städteplanung und -entwicklung so wertvoll sind, haben wir auf //next bereits geschildert: Sie machen Planen, Testen und Optimieren so viel schneller, bequemer und günstiger. Laut „Tech Trend Radar 2022“ geht die Zahl dieser digitalen Zwillinge mittelfristig in die „Hunderte Millionen“ – eine Marktdurchdringung, die über Kooperationen und Partnerschaften auch für die Versicherungswirtschaft höchst interessant sein dürfte: „adopt!“

  3. Machine-driven Decisions: Das weltweite Datenaufkommen steigt rasant, und längst können Algorithmen sämtliche Informationen zu bestimmten Sachverhalten zusammentragen, durchforsten und auswerten. Immer zuverlässiger gelingt den Maschinen auch der logische nächste Schritt: Schlussfolgerungen zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Ab-hängig natürlich davon, wie viele Daten vorliegen und in welcher Qualität. Die Versiche-rungswirtschaft könnte diesen Trend vor allem nutzen, um Entscheidungen von Maschinen vorbereiten – und anschließend final vom Menschen treffen zu lassen. Das Stichwort hier-für lautet: „Augmented Decision-making“.
  4. Natural-language processing (NLP): Die Verarbeitung menschlicher Sprache durch Maschinen erleichtert die Interaktion zwischen Mensch und Computer und erhöht etwa im ERGO Kundenservice deutlich die Effizienz. Inzwischen ist die Technologie dermaßen weit fortgeschritten, dass selbst Experten ihren Output nur noch schwer von menschlichem Content unterscheiden können, auch wenn den Algorithmen weiterhin der semantische und kontextuelle Feinschliff fehlt. Dennoch sollten Versicherer das Potenzial von NLP beherzt ausschöpfen, rät das „TTR2022“ – und zwar in möglichst vielen Anwendungen entlang der Wertschöpfungskette: von Kommunikation, Dokumentenanalyse, Abgleich und Klassifizierungen bis hin zu Chatbot-Verbesserungen und Übersetzungen.
  5. Digital Assistants: Diese virtuellen Helfer – die prominentesten Vertreter sind wohl Alexa, Siri und der Google Assistant – treiben nicht nur den Wechsel von textbasierter hin zu sprachbasierter Kommunikation zwischen Mensch und Maschine voran. Sie können zunehmend auch selbstständig Ratschläge anbieten und unsere Handlungen und Anforderungen antizipieren. Und: Sie werden immer besser, je länger und öfter sie uns assistieren. Laut „TTR2022“ werden sie künftig in Alltagssituationen und im Pflegesektor unverzichtbar – und auch im Bank- und Versicherungssektor mit seinem gigantischen Datenschatz bergen sie großes Potenzial für die Halbautomatisierung komplexer Geschäftsprozesse wie etwa dem Schadensmanagement.


... dreimal „trial“…

  1. AI Democratization:  Hinter diesem Trend verbergen sich Standards, Ansätze und Anwendungen, die dieses hochkomplexe Technologiefeld zugänglich(er) für breitere Entwicklerschichten machen. AutoML etwa verkürzt den Prozess des maschinellen Lernens so, dass programmierintensive Zwischenschritte entfallen und im Grunde nur noch die Daten einzuspeisen sind. Low-Code- und No-Code-Plattformen wiederum ermöglichen auch Menschen mit überschaubaren Programmierkenntnissen die Entwicklung von Anwendungen – und zwar via Point-and-Click, über grafische Schnittstellen oder basierend auf modellgesteuerter Logik. Da solche Demokratisierungsschritte die Zeit für die Entwicklung und den Test neuer KI-Anwendungen erheblich verkürzen, sollten sich Versicherungsunternehmen laut „TTR2022“ damit beschäftigen: „trial!“
  2. Knowledge Graphs: Wir Menschen interpretieren Informationen fortlaufend und können sie einsortieren und evaluieren, indem wir sie mit unserem Hintergrundwissen abgleichen – und dem, was wir „gesunden Menschenverstand“ nennen. Dieser Trend umfasst eine neue Welle von KI-Anwendungen, mit denen sich Daten aus verschiedenen Quellen siloübergreifend miteinander so kombinieren und referenzieren lassen, dass sie an Kontext gewinnen und ähnlich verarbeitet und abgelegt werden wie im menschlichen Gehirn. Das Ergebnis ist ein komplexes Informationsnetz, aus dem sich noch fehlende Fakten viel besser ableiten lassen als aus einer herkömmlichen Datenbank. Prominente Anwendungen sind verbesserte Suchmaschinen, Angebote zum automatischen Beantworten von Fragen sowie soziale Netzwerke. Doch im Grunde profitiert jedes Unternehmen, das mit unverbundenen, heterogenen und ständig anwachsenden Datenmengen konfrontiert ist, von diesem Trend: Er kanalisiert die Datenflut, erleichtert Abfragen und hilft bei der Integration von Firmen- und externen Daten, was zu neuen Erkenntnissen und Effizienzgewinnen führt.
  3. Reinforcement Learning (RL): Bei diesem iterativen Lernprozess wird ein KI-Modell mit spielähnlichen Situationen konfrontiert und versucht, mittels „Trial and Error“ zu einer Lösung zu kommen. Zu den Anwendungsgebieten gehören etwa selbstfahrende Autos, Industrieautomatisierung, Handel, Finanzwesen oder das Gesundheitswesen. Obwohl auf diesem Trendgebiet bereits erhebliche Fortschritte erzielt wurden, gilt RL immer noch als Forschungsgebiet. Erste Anwendungsfälle in der Versicherungsbranche finden sich im Management und Underwriting.


... sowie zweimal „assess“ ...

  1. Quantum Computing: Dieser Trend verheißt eine noch nie dagewesene Rechenleistung und könnte in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine neue Welle technologischer Entwicklungen auslösen. Wie genau Quantencomputing funktioniert, haben wir hier bereits skizziert. Im Jahr 2021 gründeten zehn führende deutsche Unternehmen, darunter Münchener Rück, das Quantum Technology & Application Consortium (QUTAC), um das enorme Potenzial dieser Trends für die Versicherungsbranche und darüber hinaus zu erschließen. Ziel des Konsortiums ist es, Anwendungen zu identifizieren, zu entwickeln, zu testen, sich auszutauschen und damit den Übergang von der Grundlagenforschung hin zur Nutzung zu unterstützen: „assess!“ 
  2. Multimodal AI: Hierunter versteht das „TTR2022“ diverse KI-Modelle, die Eingaben aus verschiedenen Datenquellen kombinieren, um immer genauere Ergebnisse zu erzielen. Diese Datenquellen können variieren – seien es Texte, Audios, Bilder oder andere Formate. Durch die Analyse solch verschiedenen Arten kann KI die Daten in einen Kontext stellen und dadurch eine bessere Leistung als herkömmliche unimodale KI-Modelle erzielen. Typische Anwendungen sind auch hier der Verkehr (fortgeschrittene Fahrerassistenzsysteme und Mensch-Maschine-Assistenten) sowie Sicherheits- oder Zahlungssysteme. Auch das Gesundheitswesen erforscht diesen Bereich – etwa, um medizinische Bilder in elektronische Gesundheitsakten zu integrieren. 

… und einmal „hold“

  1. Artificial General Intelligence (AGI): Wie oben bereits angerissen, ist dieser Trend auf absehbare Zeit nur ein Thema für Science-Fiction-Enthusiasten und „Was wäre wenn?“-Planspiele. Denn heutiger KI-Technologie – und auch der von morgen – fehlt es an gesundem Menschenverstand, wirklicher Intelligenz und Methoden zur Selbsterhaltung oder Reproduktion. Sämtliche Fortschritte im Bereich von KI – so beeindruckend sie auch sein mögen – beschränken sich auf „schwache KI“ – also auf Spezial-Anwendungen für begrenzte Einsatzzwecke. Doch sollte sich das ändern, wird es eines der künftigen „Tech Trend Radars“ frühzeitig identifizieren ;-)
     

Im nächsten Beitrag aus dieser Reihe …

... nehmen wir uns das Trendfeld „Cyber & Crypto“ zur Brust: Welche zehn Trends verbergen sich dahinter – und welche Anwendungen sind bereits im Einsatz? 

Text: Ingo Schenk

Die englische Version des Textes gibt es hier: Data & AI: Is weak AI gradually becoming stronger?

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